21. Juli 2005

Nur die Liebe lässt uns sterben

 

Anders als Fernsehsprecher profitieren Rundfunksprecher nach wie vor von der Aura des Schleiers des Pythagoras, die ja eigentlich keine sein sollte: Der Schleier hatte die Aufgabe, die Person des Lehrers zu verhüllen und die Aufmerksamkeit des Hörers auf das bloß Gehörte zu fokussieren. Vermutlich hat das schon damals nicht funktioniert (und die auch schon in die Jahre gekommene akusmatische Musik ein später Fall des visuell Verdrängten). Im Radio geht aber alles mit rechten Dingen zu. Man hört mehr oder weniger zu und die Sicht ist frei. Was aber passiert, wenn man eine Stimme nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Wenn diese Stimme einen anspricht ohne einen zu kennen? Wie ein Radio-DJ, der eine bestimmte Musik für einen auflegt?

 

David Garver (Clint Eastwood) ist ein braver Mann und denkt sich nichts Böses bei dem Ritual, das sich jeden Abend wiederholt, wenn er für Evelyn (Jessica Walter) immer wieder dieses eine Stück spielt: „Misty“. Der Plattenspieler scheint eigens für diesen Song im Studio zu stehen. Easy Listening für einsame Herzen. Die meisten bleiben ja Gott sei dank einsam und brav zu Hause. Aber Evelyn hat ein Auto und könnte sowieso problemlos eine Wissenschaftlerin oder eine begnadete Bild-Reporterin abgeben. Zähes Geschöpf, wie man später merkt. Selbstverständlich lernt sie Dave früher kennen als er sie. In dieser kuriosen Bar, die aussieht wie eine künstlerisch verunstaltete rote Tankstelle. Undurchsichtige räumliche Verhältnisse hinter dem Tresen. Dann spielen Dave und der Barkeeper eine Art „Free Schach“, allerdings ohne den potenzierenden Faktor bis zur unerträglichen Zumutung. So was lockt die Frauen an, aber Evelyn wäre auch so gekommen. Doch von dieser Neugier weiß Dave natürlich noch nichts. Etwas später liegen die beiden schon im Bett. Obwohl es Tobie gibt (Donna Mills), die Dave liebt, die aber gerade nicht in der Stadt ist. Spurlos verschwunden. Also eine kleine Affäre, weil er nicht weiß, wie und ob es weitergeht. Evelyn klärt Dave auf, warum sie in der Bar war. Dass sie ihn dort erwartet hat. Dass sie ein großer Fan ist und dass sie es ist, die sich immer dieses Lied wünscht. Grund genug, geschmeichelt zu sein. Evelyn ist nicht hässlich und zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar als „modifizierter Hund“.

 

Die erste wirkliche Begegnung mit Evelyn steht noch aus, erst beim zweiten Mal merkt er, was los ist. Als sie den Kühlschrank auffüllt und überhaupt ohne Ansage vorbeischneit. Dave ist verärgert, aber nur kurz, Dave hat ein großes Herz. Ab jetzt hat Evelyn eine Dauerkarte. Zwar nicht gern, aber oft gesehen. Evelyn versteht offensichtlichste Signale nicht. Dass sie nervt und eigentlich Schluss sein sollte. Für sie geht es erst richtig los. Sie schaut jeden Tag vorbei. Kann nicht begreifen, dass ihr neuer Freund nicht begeistert ist, sie zu sehen. Dass er sich mit anderen Frauen trifft, und sei es geschäftlich. Natürlich entschuldigt sie sich immer für ihr rufschädigendes Verhalten. Aber diese Liebe ist zu tief, als dass sie von ihm lassen könnte. Wenn nichts mehr hilft, ritzt man sich ein wenig die Pulsadern auf. Vielleicht bringt Pflege die ersehnte Liebe? Nein. Dann muss Dave bestraft werden. Die Wohnung wird auseinander genommen. Die Haushälterin überrascht die Harpyie. Das kostet ihr fast das Leben. Evelyn wird in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, der Weg für Dave und Tobie ist frei.

 

In einem herrlichen Zwischenfinale, das sich erst nach seinem Ende als Zwischen zu erkennen gibt, feiern die beiden ihre wieder gefundene Liebe zueinander, in der Natur, beim Sonnenuntergang, im kühlen Bergsee, und zuletzt auf dem tollen Monterey-Popfestival, das auch Gesine Schwan zu seinen Gästen zählt. Die Zuschauer werfen sich unsichere Blicke zu und meinen, dass das ein Ende sein könnte, das Happyend, aber ein ungutes Gefühl macht sich allenthalben breit, dass die Attacke gegen die Haushälterin nur ein Stellvertreterding war. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Aber man weiß ziemlich genau, wie sie enden wird. Evelyn wird natürlich entlassen und taucht wieder auf. Stiftet Unruhe. Wirft sich zwischen das Paar. Der Kommissar ist ein Tölpel und wird dafür mit Tod bestraft. Dave als eigene Hauptfigur des Regisseurs darf freilich nicht so kümmerlich sterben. Er wird attackiert von dem Frauenmonster, es ist zu spät, sie von ihrer überspitzten Liebesvorstellung zu heilen, Dave überwältigt sie, sie stürzt ins Meer, hier kann sie sich gut mit ihrer inneren Unendlichkeit austauschen. „Sadistico“ hat die Dramaturgie eines präzise ablaufenden, unabänderlichen Einakters. Aber ein so ausuferndes Mittelstück mit dem bewährtesten aus der Kitsch-Corner hat man selten gesehen. Respekt vor dieser Tat.

 

Dieter Wenk (07.05)

 

Clint Eastwood, Sadistico – Wunschkonzert für einen Toten (Play Misty for Me), USA 1971