Welteröffnungsinstrumente

 

Man stelle sich die Begegnung mit dem Künstler Jörg Herold als einen Überraschungsbesuch vor. Die Tür geht auf und vor einem steht ein freundlicher Riese. Zwei Meter groß betritt er die Wohnung, schaut interessiert aus allen Fenstern, fragt viel, macht Fotos und erbittet sich einen persönlichen Gegenstand für seine Ausstellung. So erging es 12 Familien in Wolfsburg. Anlässlich der Verleihung des mit 10.200 € dotierten Preises „Junge Stadt sieht junge Kunst“ zeigt die Städtische Galerie Wolfsburg eine ortsbezogene Ausstellung des Preisträgers Jörg Herold, die durch intensiven Kontakt mit den Einwohnern der Stadt entstand.

 

Wolfsburg ist erst 67 Jahre alt. Von den Nazis 1938 auf dem Reißbrett entworfen, als Stadt des KDF-Wagens. Die Geschichte des Ortes, besonders die Gründungszeit ist finster. Während des Krieges unterbrach man die Verwirklichung der Wohnungsbauprojekte. Barackenlager prägten das Stadtbild, in die Tausende ausländische Zwangsarbeiter gepfercht wurden, die für das Volkswagenwerk arbeiten mussten.

 

Der Künstler Jörg Herold, geboren 1965 in Leipzig, ist bekannt durch die Teilnahme an der Dokumenta X und der Biennale in Venedig 1995 und nennt sich selbst Dokumentararchäologe. Er „gräbt“ mit Vorliebe an Orten, wo keiner graben will. Ihn fasziniert an Wolfsburg die private Konstruktion von Heimat, in einer Stadt, die keine lange Geschichte hat. Herold veranschaulicht Diskrepanzen zwischen öffentlicher und privater Erinnerungskultur. Ihn interessieren persönliche Gegenstände, die von den Besitzern mit Erinnerungen besetzt sind. Bei dem Versuch, emotionale Bindungen an Dinge zu ergründen, die in beliebiger Gestalt, mal als Holzbrett, als Vogelhaus oder als Sternentapete erscheinen, stößt er auf die wildesten Identitätskonstruktionen. Wohnungsgestaltung ist Lebensgestaltung, und Dekoration und Möblierung verheißen Teilhabe an der Gesellschaft: Ich zeige dir mein Fensterbrett, und du bist gleich im Bilde. Deshalb stehen verschiedene Dinge aus ihrem Kontext gelöst im Ausstellungsraum, begleitet von freundlichen Texten und Fotos zu ihrer Geschichte. Die alte Dame, die berichtet, es sei ein schönes Gefühl, gebraucht zu werden, und dabei an die Rettung von drei Schwalben denkt, muss folgerichtig ihr Vogelfutterhaus für die Ausstellung rausrücken.

 

Eine Planstadt mit abgezirkelten Wohn- und Arbeitswaben formt Lebensläufe. Lebenserinnerungen sind allerdings individuell und entfalten sich auch unbeeindruckt von Stadtplanern und Siedlungskonzepten, auch in den Wohnungen, die Herold besuchte: Siedlungshäuser der 50er bis 70er Jahre. Fließend warmes Wasser und Luftschutzkeller. Alles ist hervorragend eng und praktisch eingerichtet für Menschen, die, wenn alles nach Plan liefe, tagsüber am Band arbeiten. Die Wirtschaftswundermythen, die Autostadt und das Spaßbad interessieren Herold nicht, dennoch sind Privates und Öffentliches die zwei Stränge der installativen Präsentation.

 

Herolds begehbare Wohnungsmodelle im Maßstab 1:2 und die kleineren Grundrissobjekte stehen für die öffentliche Planung der Stadt. Die Wände der Gips-Modelle sind sehr hoch gezogen, sodass man den Grund der Wohnungen nur erahnen kann. So klaustrophobisch und dunkel diese Modelle erscheinen, stehen sie auch sinnbildlich für die Unauslotbarkeit von privaten Lebensentwürfen. Schließlich kann man am Grund der Wohnungen ein langes Leben in Vitrinen verstauen und Sand aus allen Urlaubsländern in Wohnungen horten. Diese Realien sind Welteröffnungsinstrumente.

 

Jörg Herold ist kein begnadeter Fotograf. Die komische Unzulänglichkeit der technisch miserablen Fotografien befördern allerdings das Gefühl einer vertrauten Nähe zum Abgebildeten. Die Betrachtung erscheint unverfänglich, man empfindet sich nicht als Voyeur, ist es aber trotzdem. Am interessantesten sind die Fotos, auf denen Herold selbst zu sehen ist. Der zwei Meter große Dokumentarchäologe in Aktion. Auf diesen Abbildungen wird die für Herold allemal zu enge, zur Bewegungslosigkeit verdammende Funktionalitätsarchitektur deutlich. Auch von der tragisch komischen Aussichtslosigkeit, irgendwelche Lebenspläne zu verstehen, gewinnt man ein ironisches Bild: Jörg Herold schaut gebückt zum Fenster hinaus, mit der Aussicht auf nichts und eine Grünanlage.

 

Auf einem Foto sieht man den Künstler an einem Betonei werkeln. Es ist ein kleiner Bunker, der halb aus der Erde ragt. Man kann darin den nächsten Krieg überstehen und derweil ungestört von der Außenwelt ein ganz privates Heimatgefühl züchten. Dies ist eine ironische Entsprechung zur deutschen Lebensgestaltung, bei der man sich genauso in die Privatsphäre einbunkert. Das scheinbar Paradoxe der Unternehmung: geschichtsarmes Wolfsburg/Einwohner mit Geschichten, offenbart sich in der Ausstellung als friedlich ignorantes Nebeneinander.

 

Vergleiche sind Herolds Methode. Er ist dabei nicht in das zwickende Historikergeschirr gespannt, sondern kann sich assoziativ bewegen und das gesammelte Material sprunghaft zusammenrücken. So zeigt die Schau 13 Stationen mit Gegenüberstellungen. Staatliche Strukturentwicklungen und das Klein-klein der privaten Brezelwege. Die passgenaue Konfrontation der Stadt Wolfsburg mit den privaten Geschichten Wolfsburger Bürger gelingt allerdings nur durch den Schwall von Texten, die Herold zu seiner Präsentation aufbietet. Herold erforscht die Materialität von Erinnerungsprozessen, ohne die spezifisch Wolfsburgische Geschichtsklitterung zu bebildern. Vielleicht ist Jörg Herold als Preisträger der Stadt auch nur zu höflich.

 

Dr. Klaus-Jörg Siegfried, Historiker der Stadt Wolfsburg, mit dem Herold vor dem Start seiner Feldforschungen einen Briefwechsel unterhielt, blickt jedenfalls neidisch auf das Werk des Künstlers. Historikern gelingt kein derart unverkrampfter Anschluss an die öffentliche Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, das Gegenwärtige nicht als Selbstverständlichkeit, als ewig Gültiges aufzufassen. Herold hängt sich kein Wissenschaftsmäntelchen um, erreicht aber mit seiner Präsentation eine Schärfung des Blicks auf Absonderlichkeiten des Alltags, die wissenschaftliche Fragestellungen einbeziehen. Es ist die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die einem bei dieser Ausstellung bewusst wird.

 

Nora Sdun

 

Jörg Herold: „Wolfsburger Skizzen / Reisebeschreibungen eines Dokumentararchäologen“, Städtische Galerie Wolfsburg