16. Juli 2005

Gecekondu in Berlin

 

Nord und West und Süd zersplittern,

Throne bersten, Reiche zittern,

Flüchte du, im reinen Osten

Patriarchenluft zu kosten,

Unter Lieben, Trinken, Singen,

Soll dich Chisers Quell verjüngen.

 

(West-Östlicher Divan, Goethe)

 

Urban Realities: Fokus Istanbul, Gropius-Bau, bis 3. Oktober 2005

 

„Fokus Istanbul“ heißt die Gruppenausstellung im Gropius-Bau zu Berlin. Viele junge Künstler aus 20 verschiedenen Ländern demonstrieren dort zurzeit vor allem vordergründige Witzbereitschaft, und sind mit diesem Verhalten völlig dem deutschen Mirakel von der lückenlosen Verständigung verpflichtet, die man am besten durch lustige multikulturelle Straßenfeste, winkende Zaunpfähle und aufklärerischen Impetus herstellt. Auf ironische Weise gelungen ist die Wahl des Ausstellungsorts. Der Innenhof des Gropius-Baus mit seinem pseudoorientalistischen Durcheinander illustriert vollendet das Phänomen der Verkitschung, die stattfindet, wenn man versucht, etwas zu repräsentieren, was man nicht kompetent überschaut, und das ganze dann in Dekorationslust umschlägt. Leider wird das von keinem Künstler kommentiert. Sie dekorieren lieber mit.

 

Es soll eine kunst- und keine kulturhistorische Ausstellung sein, mit internationalem Anspruch. Istanbul ist hier das Fallbeispiel für Stadtentwicklung, Migration, Bodenspekulation, aber es soll irgendwie auch um türkische Kunst gehen. Gecekondu heißt die städteplanerische Herausforderung Istanbuls, bei der Häuser, die über Nacht auf öffentlichem Grund erbaut sind, zwar kein Klo haben, aber nach altem osmanischen Recht nicht wieder abgerissen werden dürfen. Gecekondu ist auch eine Metapher für Ausstellungskonzepte, die seltsam unvermittelt dastehen und nicht einfach eingerissen werden dürfen – ist altes Branchenrecht, wer sich jahrelang in der Szene rumtreibt, darf auch immer mal wieder seine verständnisvollen Konzeptionen unter die Leute bringen.

 

Es gab im Vorfeld der Ausstellung allerdings ein paar ärgerliche Zwischenfälle, die eher nach Missverständnissen und unüberbrückbaren Vorlieben klingen. Jedenfalls ist eine Gruppe von zehn türkischen Künstlern abgesprungen. Sie waren es leid, immer und immer wieder für die Völkerverständigung herzuhalten. Warum sollen Künstler eigentlich die idealen Vermittler sein zwischen Kulturen? Die monothematischen Gruppenausstellungen der letzten Jahre behaupten das jedenfalls. Dabei kann man Folgendes feststellen: Eine Ausstellung zum Beispiel über die Skythen ist historisch interessant. Man entdeckt seltsame Gegenstände und Bilder genug, um mit einem geschärften Bewusstsein für die Sonderbarkeit des Alltags in Deutschland die Schau zu verlassen. Tja, Fremderfahrung ist Selbsterfahrung, aber nicht sofort Verständigung. Das Problem bei monothematischen Ausstellungen, die Gegenwartskunst zeigen ist, dass die ausgewählten Künstler, der Einfachheit halber, aus den Zusammenhängen des Kunstmarkts kommen. Das heißt für „Focus Istanbul“, dass es gar nicht so viele Künstler gibt, die sich explizit mit gerade dieser Stadt beschäftigen. Der Krampf der Kuratoren, die nun anfangen müssen, ihre völkerverbindenden Konzeptionen (die sie obendrein an einer Stadt festmachen) über diverse Positionen zu stülpen, kann beginnen. Der Kurator Christoph Tannert hält sich wacker, bei eben diesem Unternehmen.

 

Denn es ist zu schön. Es ist die staatlich geförderte Bosporos-Metapher der Brücke zwischen Europa und – ja was eigentlich? Ignoranz braucht keine Brücken, Ignoranz ist grenzenlos. Aber auf den Euroscheinen sind Tore und Brücken. Toll! Brücken also in das Land, was gar nicht mitmachen darf beim Eurotaumel. Es sind übrigens nicht die Künstler, die sich den Quark mit den Brücken ausdenken. Bildende Kunst bleibt ein privilegierter Partner für Weltflucht.

 

Aber Tannert weiß, wen er bedienen will. Schließlich gilt es, endlich mal wieder den original türkischen Seidenschal von dem entzückenden Bazar umzulegen und eine Ausstellung zu besuchen, bei der man sich über gar nichts wundert und eben deshalb die Rhetorik des Verständnisses umso ungestörter auswalzen kann. Tannert will andocken an Synergien, die Filmemacher aus Ottensen, wie z.B. Fatih Akin herzustellen wissen, weil sie ein großes deutsches Publikum bedienen können und nicht nur die Verständnis-Schal-tragenden Studienräte. Tannert ist aber kein mediengängiger Jungstar, sondern ein Berliner Kurator mit verinnerlichtem Bildungsauftrag. Dazu passt der textschwangere Katalog und das Gecekondu-artige Rahmenprogramm.

 

Es wäre sehr gut, eine Ausstellung mit moderner türkischer Kunst zu sehen. Es wäre auch brauchbar, erneut einen Entwurf zu Urban Studies im Zusammenhang mit Bildender Kunst zu konzipieren. Besonders schön würde es, wenn die Tannerts des Ausstellungsbetriebs eine Schau organisierten, mit einer Menge der bis zur Selbstaufgabe ernsthaften Künstler. Von denen gibt es nämlich auch ein paar in „Focus Istanbul“. Es würde eine tragikomische Ausstellung mit vielen Videos über das Sich-zu-Tode-Erklären. Dabei würde man dann sehr viel über die abnippelnde Diskursmacht Europas erfahren.

 

Focus Istanbul, Gropius-Bau, Berlin, 9.7. bis 3.10. 2005

 

(Nora Sdun)