12. Juli 2005

Der Wille zum Wischen

 

Wenn die Lust am (oder vielleicht auch der Zwang zum) Archivieren erstes Merkmal von Pop-Literatur sein soll, so müsste Eckhard Henscheid ihr prominentester, weil umfassendster Vertreter sein. Aber gerade weil er sich um alles kümmert, fällt er auch schon wieder aus der Pop-Art heraus. Ihn interessiert nicht das schicke Archiv, das Non-plus-ultra-Objekt, die Abschnürung, die dadurch passiert, dass der Pop-Autor einen Unterschied macht, sondern die möglichst große Zahl, um aus der Katastrophe reiner Quantität ein zugleich erschütterndes wie lustiges Dokument satirischer Unterhaltung zu zimmern. In wie vielen Kulturen zum Beispiel der bundesdeutsche Spaßfraktionist zugleich lebt, sprengt jeden Zettelkasten, nur nicht den von Eckhard Henscheid. Und dass er selber das Zeug zum Pop-Autor hätte, zeigt er dadurch, dass er aus der zwar noch abzählbaren, aber insgesamt ziemlich idiotischen Menge kultureller Distrikte eine höchstpersönliche Rangliste verbaler Perversionen am Text entlangmoderiert, die er in des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse geforderten oder auch schon nischenmäßig entdeckten „Entfeindungskultur“ gipfeln lässt.

 

In Texten wie diesen zeigt sich, dass im Grunde ja völlig prämoderne Sammlerleidenschaften sehr moderne Synthesen einzugehen vermöchten mit einer Formulierungspraxis, deren rhetorischer Stone-washed-Charakter dezent im Hintergrund bleibt und die Lust am Weiterlesen in keiner Weise trübt. Ob nun aber der Leser aus diesen (in den letzten vier Jahren in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften bereits publizierten) Texten erkenntnismäßig gestärkt und moralisch gerüstet heraustritt, um nun seinerseits am Stammtisch oder wo auch immer die Aufklärungsschiene noch ein bisschen weiterzuverlegen, oder ob er auch dieses gerade verabreichte Mehr-Wissen nur noch genießerisch in und mit sich selbst verdaut, das kann man den Texten selber nicht mehr ablesen. Wird auch von niemandem verlangt, zuletzt vom Autor selbst, der manchmal so sehr in seinen opulenten Konstruktionsroutinen gefangen scheint, dass man nicht zu sagen wüsste, wer hier eigentlich wen schreibt. Es gibt aber immer wieder Überraschungen, so zum Beispiel, wenn Henscheid sich nicht etwa anheischig macht, das musikalische Genre der Operette zu zerfleddern, sondern sich im Gegenteil für sie stark macht und Leute vorführt, die so vorlaut sind zu sagen, dass ihnen nichts fehlte, wenn es die Operette nicht mehr geben würde.

 

Vielleicht zeigt sich gerade hier ganz schön, dass Henscheid schon auch ein großer Nostalgiker ist, der nicht auf den Zug jeder technischen Neuerung oder jeder genremäßigen Ablösung (wie etwa Musical versus Operette) aufsteigt und mit seinen lange geübten Mitteln der Realitätsbewältigung, so bescheiden sie sich auch – wie zum Beispiel ein schlichter Stift und ein Papierblock – ausnehmen mögen, beachtliche Erfolge der Dokumentation zustande bringt, deren einziger Nachteil der Rezensent persönlich darin sieht, dass sie nicht romanesk aufgelöst und umgesetzt ist – aber das wäre die Probe auf die Entwicklungsfähigkeit des Pop-Romans, dessen Leitfigur der zynischen Schnöseligkeit schon seit längerer Zeit zu Recht nur noch Deckung sucht. Pop und Heiterkeit, aber das ist vielleicht ein ähnlich schwieriges Unterfangen wie Glück und Ehe.

 

Dieter Wenk (01.04)

 

Eckhard Henscheid, Die Nackten und die Doofen, Springe 2003 (zu Klampen!)