11. Juli 2005

Der Prä-Gender-Diskurs in der Engel-Literatur

 

Natürlich verpasst man rein gar nichts, wenn man diesen Bestsellerautor seiner Zeit nicht liest, und es gilt auch nicht, ihn in irgendeiner Art wiederzuentdecken. Was man jedoch entdecken kann, wenn man ihn liest, ist der erstaunliche Trash-Faktor, der noch nicht einmal gegen den Strich gebürstet in diesen Schriften liegt. Schon zu seiner Zeit hat man ihn als „Kulturdichter“ apostrophiert (Tucholsky), der Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei sprach später vom „Gentlemandichter“ oder vom „Herrenreitertypus“. Ein wenig Thomas Mann ohne Selbstironie. Wenn man Sachen liest wie „Der Opfergang“, staunt man über die stupende bis stupide Bearbeitung von Metaphernfeldern, die die Entscheidung, sollte sie einem abverlangt werden, zwischen großer Kunst und großem Kitsch doch sehr vereinfachen. Nichts fataler für einen Autor, der sich sehr ernst nimmt und glaubt, wichtige Dinge zu verhandeln, als unfreiwillig komisch zu wirken.

 

Natürlich steckt kein Autor in der Zeit, die nach ihm kommt, aber Forcierungen, die schon in ihrer Zeit auffallen und unter Manierismusverdacht geraten, haben es danach nicht unbedingt leichter, genossen zu werden. Zum einen also der hohe Ton, der heute irritiert, zum anderen die seltsamen bis abstrusen Themen und Figuren, die heute gewissermaßen ausgestorben sind, oder gibt es noch irgendjemanden, der sich einen Zahn ausreißt, Heiligenlegenden zu schreiben? Coelestina ist eine davon, 1908 in einem Legendenzyklus publiziert. Sollte es übrigens bei der Rechtschreibreform überhaupt nicht mehr weiter gehen, könnte man sich leicht an Bindings locker gehandhabter Kommaregelung orientieren, die beweist, dass eigentlich alles geht, konsequent ist hier gar nichts (In einer Kriegsausgabe von Bindings „Unsterblichkeit“ heißt es dazu: „Die Zeichensetzung ist nicht schulgemäß sondern, nach des Dichters Anweisung, dem Fluss der Sprache gemäß angewendet“). Die Legende selbst erzählt von zwei Welten, der Himmelswelt und der Erde, von den Sternen heißt es naturwissenschaftlich ganz korrekt, dass „eine sehr große Zahl nicht im eigentlichen Himmel sondern außerhalb desselben im ewigen unendlichen Raum verteilt war“.

 

Der Autor gibt eine schöne Impression vom Alltagsleben des Herrgotts, der auch Probleme hat (natürlich nicht mit sich, er selbst ist ja vollkommen) und es zum Beispiel gar nicht ab kann, wenn seine Engel zum Sonntagskonzert falsch singen. In der Figur des Petrus wird deutlich, dass im Himmel nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist, denn eine seiner Aufgaben ist es, die Sternschnuppen wenn nicht einzufangen so doch deren Erdbefall deutlich zu reduzieren. Bei einem solchen Job verliert ein kleiner Engel das Gleichgewicht und gerät in die Gravitation der Erde. Der Engel, es ist Coelestina, fällt. Ein dummer Bauer, der nicht bibelfest ist, erkennt den Engel nicht als Engel und schneidet ihm die Flügel ab (qua Beschneidung oder symbolische Kastration als erster Schritt in die Aufnahme in die menschliche Gemeinschaft). Der Engel kann sich jedoch schlecht anpassen und hat furchtbar Heimweh. Auch die Jungfrau Maria, die einmal mehr auf die Erde kommt, kann ihm nicht helfen und im Himmel nichts für ihn erreichen.

 

Aber immerhin fiel Coelestina ohne Umsturzprogramm. Das einzige, was sie machen kann, ist früh zu sterben, um über den Umweg des Todes in den Himmel zu gelangen. Dafür geht sie in ein Krankenhaus, wo todkranke Menschen liegen, mittlerweile wäre sie vom Alter her entjungferbar, allein sie ist ein Engel und hat auch das Herz nicht am rechten Fleck, sondern trägt es mittig. Dann verliebt sich auch noch ein Kranker in sie. Darüber wird sogar der liebe Gott schwach und lässt die vermutlich erste Geschlechtsumwandlung der Menschheits- und Engelgeschichte vornehmen. In der „Keuschheitslegende“ greift Binding dieses höchst aktuelle Thema wieder auf. Bei Coelestina staunt man einmal nicht, was technisch, sondern was thematisch möglich ist. Bei Binding ist es immer allerhand. Und das ist sehr lustig. Auch wenn das auf Kosten des Autors geht.

 

Dieter Wenk (05.05)

 

Rudolf G. Binding, Coelestina. Eine Märchenlegende, Potsdam 1940 (Rütten & Loening)