11. Juli 2005

Noch besser als Teil 1

 

Rainer Werner Fassbinder hätte sich den hier abgewendeten Amoklauf nicht entgehen lassen. Verschiedenes Temperament. Fassbinder war kein Humorist wie Henscheid einer ist. Mehr Humorist als Satiriker. Mehr Empathie mit dem Grauen als Kritik am letztlich doch Unabwendbaren. Bestandsaufnahme des provinziellen Elends mit sofortiger literarischer Erhöhung. Mindestens die Hälfte dieses „Tripelromans“ ist sehr lustig zu lesen. Nicht weil immer neue Witze erzählt würden oder neue Situationen für Abwechslung sorgten, sondern weil es immer so weiter geht. Die Kneipe ist der heilige Versammlungsort, daneben, ebenso gewichtig und funktional identisch ausgerichtet, der ANO-Teppichladen in Seelburg mit dem Betreiber Alfred Leobold und dem Mitarbeiter Hans Duschke. Ein Paar wie Himmel und Hölle. Obwohl beide exakt das gleiche machen, Teppiche verkaufen und saufen.

 

Die meiste Muße hat allerdings der Erzähler, Moppel genannt, abgebrochenes Jura- und Musikstudium im Hintergrund, vor sich ein geschütztes Rentier-Dasein aufgrund unerwirtschafteten Hausbesitzes. Durch diesen fruchtbar zu machenden Trick in puncto Rechtfertigung auktorialer und allwissender Erzählerperspektive erhält der Leser ein Panorama dessen geliefert, was in diesem Ort geschieht oder nicht geschieht, ein who is who der lauten Gewinner und stillen Verlierer, der erotisch Erfolgreichen und ewigen Verlierer, der alten Männer und jungen Frauen sowie überhaupt ein Bild der ritualisierten Formen heutiger Gemeinwesen, ohne die kein Gemeinschaftsleben möglich wäre. Nachdem die Kirche ihre alte formierende Kraft verloren hat, darf man nach Lektüre der bei aller Literarisierung absolut authentischen Henscheid’schen Romane mit Genugtuung feststellen, dass die zwar nicht mehr mythosabgeleitete, aber immer noch Festcharakter tragende dörfliche – und sei es Sauf- und Trink- – Welt Ausdruck eines still bohrenden einheitlichen Willens ist, der in Sachen Homogenisierung der im Prinzip ja doch so verschiedenen Lebensentwürfe einen Vergleich mit früheren Egalisierungsgeschehnissen nicht zu scheuen braucht. Der Autor, jedenfalls der Erzähler Moppel, liebt sein Personal, das ist mal klar. Wie unglücklich er auch in das so ungleiche Geschwisterpaar Susanne und Sabine verliebt ist, er igelt sich nicht ein, sondern kehrt an den Schauplatz des erotischen Kampfes um die Frauen zurück, um auch weiterhin ein getreuer Chronist dieser dörflichen Passion zu bleiben, was manchmal einschließt, dass der Erzähler hier und da arg zu knabbern hat an den Vorwürfen bezüglich seiner Fähigkeit zur Gestaltung attraktiven Geschlechtsverkehrs im Vergleich mit Kombattanten, die sich um das erotisch Matadorhafte schon lange nicht mehr bemühen müssen. Treue und Sympathie auch noch gegenüber dem, der im wirklichen Leben vermutlich nur noch widerwärtig wäre mit seiner bizarren Mischung aus Beschränktheit und Größenwahn – diese Fähigkeit macht aus dem Erzähler beinahe so etwas wie den lieben Gott, der auch an seine schwarzen Schafe denkt und keins aufgibt, bevor es nicht den Säufertod gestorben ist.

 

Eine so enge Bekanntschaft mit der Wirklichkeit mag man dem Erzähler nicht neiden, was ihn unbedingt zum Helden des Dokumentarischen macht, aber am distanzierenden Gängelband des dörflichen Beobachters geht man doch gerne mit an die Plätze der ewigen Bestellung und erfreut sich an dem sprachlich sublimierten Enthusiasmus, dessen andere Seite natürlich nur das nackte Grauen ist.

 

Dieter Wenk (02.04)

 

Eckhard Henscheid, Geht in Ordnung – sowieso – – genau – – –, Frankfurt 1979 (1977) – Trilogie des laufenden Schwachsinns II