30. Juni 2005

Schnitttechnik

 

Bis sich die schwer geprüften Menschen in diesem umfangreichen Roman (555 eng bedruckte Seiten) mit ihrem Schicksal abgefunden und es sogar für gut befunden haben, geht einiges den Bach runter. Dem christlichen Seelenaufschwung des Endes entspricht ein knallharter materialistischer Einsatz, bei dem die Fetzen fliegen, und diese Fetzen sind die einer frisch sezierten Leiche, die einem gerade von seiner Militärzeit zurückgekehrten Medizinstudenten um die Ohren geworfen werden. Es geht nicht zimperlich zu in diesem Arztroman, in dem die Hauptpersonen weniger von kompakten wirklichen Menschen gebildet werden als aus Mechanismen, grellen Affekten, lädierten Körpern, stinkenden Räumen, fahlen oder krassen Farben und mannigfachem Operationsbesteck zu bestehen scheinen.

 

Ein Sturzbach von Namen überfällt den Leser, der erst mit der Zeit sich in ein überschaubares Delta verwandelt. Bis dahin werden Personennamen analog zu solchen von Krankheiten erfahren, der Aufbau des Romans geschieht metastatisch. Irgendwann bilden sich Knotenpunkte, Abhängigkeiten, der Leser bildet von sich aus Familienstammbäume nach und erkennt, warum Liebesbeziehungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, nur um nach und nach zu merken, dass er mit dieser Erkenntnis falsch lag. Man könnte diesen genauen und alles registrierenden Roman als ein vorweggenommenes Lateralprodukt von Diskursgeschichten betrachten. Hier geht es hauptsächlich um den medizinischen Diskurs der Zeit mit den nötigen Ausflockungen in die Nachbardiskurse, zum Beispiel Politik und Juristerei. Die Ärzte tauchen gleich zu Dutzenden auf mit ihren Gehilfen und Studenten und Sekretärinnen und Gattinnen und Familien; Ärzte in einfachen Praxen, Krankenhäusern, Sanatorien, Irrenhäusern; Alltag und Ausbildung, Karriere und Konkurrenz, Therapien und Diagnosen. Und immer wieder der unmittelbarste Kontakt mit dem menschlichen Körper und mit dem, was man normalerweise, als Nichtmediziner, nicht sieht, subkutan. Frauen hängen wie geschlachtetes Vieh von ihren Operationsstühlen herab und geben entfernt Antwort auf Metzgerfantasien à la Francis Bacon. Verrückte werden zu Experimenten verwendet und springen im Dreieck, wobei ihnen das Rückgrat entzweigeht. Kaiserschnitte werden an lebenden und toten Frauen vorgenommen; auf zehn Seiten kämpft eine medizinische Koryphäe, die schon bessere Seiten gesehen hat, mit dem nicht zu stillenden Blut eines Unterleibs, der wie ein Billardtisch traktiert wird, und am Ende werden sich die 6 Liter Blut der Frau irgendwo im Raum verteilt haben.

 

Vielleicht sieht man heute am Bildschirm in Arztserien das Blut „wirklich“, aber was sich auf diesen zehn Seiten im Kopf des Lesers abspielt, braucht keine Bildschirmkonkurrenz zu fürchten. Beim Schreiben kann aufgebaut werden, beim televisuellen Sehen oft nur noch abgebaut, nach dem Initialschock. Trotzdem keine Frage, dass sich dieser Roman ausgezeichnet verfilmen ließe. Der Roman ist schon sein eigenes Drehbuch, so perfekt sind die einzelnen Szenen aneinander und voneinander gekettet. Und es gibt auch so etwas wie ein Diskursinteresse, das den Roman durchzieht und ihm eine medizin-kritische Note verleiht. Die meisten Krankheiten, so der Tenor, sind hausgemacht. Zu schlechte Ernährung, zu viel Alkohol, Tabak, Fett, zu wenig Gemüse und Obst: Das Messer, das hier so emsig verfolgt wird in seinen befreienden und verheerenden Schnitten, ist zugleich Anklagepunkt eines naturheilkundlichen Standpunkts, der mehr auf Prävention als auf symptomatologische Behandlung setzt. Bei aller Krassheit ist dieses Buch frei von jeder Sensationslust am Grauen, wie man es vor allem im heutigen postmodernen Theater kennt und was sich sofort als läppisch verrät.

 

Maxence van der Meersch ist ein kühler, überhaupt nicht „cooler“ Autor, für den man sich ein paar Stunden Zeit lassen sollte und von dem man sich gerne als Gute-Nacht-Lektüre propädeutisch in seine ganz persönlichen Alpträume führen lässt.

 

Dieter Wenk (04.04)

 

Maxence van der Meersch, Leib und Seele, Köln 1975 (Köln 1949, Corps et âmes, 1943)

 

 

Ärzte in Grenzen (Kolumne zu „Leib und Seele“)

Vielleicht hat sich jeder schon einmal gefragt, wie weit er zum Beispiel in einer finanziellen Notsituation gehen würde, um sich aus dieser Kalamität zu befreien. Man hat eine Dummheit begangen, Bombendrohungen ausgesprochen… Jetzt wollen die Betroffenen entschädigt werden. Ein Anruf in einem medizinischen Forschungsinstitut. „Wir garantieren absolute Vertraulichkeit.“ Man schlägt Ihnen ein nicht ganz ungefährliches Experiment am eigenen Körper vor. Gewisse Deformationen seien nicht auszuschließen. Aber Sie könnten reich werden… Über Ärzte im nationalsozialistischen Deutschland wird man ab heute im ZDF informiert. Wie aber sah das medizinische Forschen davor aus, in Deutschland, Europa? Mit was experimentierte man? Gab es Grenzen bezüglich des „Materials“? Im Jahr 1943 erschien in Frankreich ein dicker Roman des 37-jährigen Maxence van der Meersch, für den die Ärztezunft nicht bloß einen impressionistischen Hintergrund abgab. Ein beeindruckendes Gesamtpanaroma entsteht, Dutzende von Ärzten mit ihren Zöglingen tauchen auf, Praxen, Kliniken, Anstalten, Irrenhäuser werden in ihrer Funktionsweise vorgeführt. Das Buch, Corps et âmes (eigentlich „Körper und Seelen“, aber seit der deutschen Übersetzung 1949 heißt es leider „Leib und Seele“, was dem grandiosen Erfolg des Buchs keinen Abbruch tat) ist dezidiert naturalistisch, bisweilen brutal in der Darstellung, ohne jedoch auf die Sensationslüsternheit des Lesers zu setzen. Ein Kaiserschnitt wird auf zehn Seiten akribisch dargestellt. Vielleicht am interessantesten die Profilierungszwänge in den oberen Rängen der Ärzteschaft. Eine chirurgische Koryphäe ist auf der Suche nach einer neuen Therapie der Schizophrenie. Die Versuchspersonen? Behinderte. Die so genannte Curare-Therapie scheint in einigen Fällen ganz gut zu funktionieren, aber bei der Hälfte der Probanden kommt es zu Konvulsionen derart, dass sie sich das Rückgrat dabei brechen. Der Professor hält jedoch erst Mal fest an seinem Steckenpferd, neues „Material“ wird verbraucht, ein Kongress gibt Gelegenheit, Empfehlungen auszusprechen. Es wird viel vertuscht. Dann muss der berühmte Mann aufgeben, er hat zu hoch gepokert. Statt Curare gibt es die Schocktherapie. Insgesamt liefert van der Meersch ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Schnipselmedizin, die er freilich ausgiebig vorführt. Sein Kandidat? Naturheilkunde, vor allem Prävention durch gesunde Ernährung. Die Koryphäe übt am Ende des Romans harte Selbstkritik. Dabei gerät die gesamte harte Medizin des Abendlands unter Generalverdacht. Ein beeindruckendes Buch. Das Fragen kann losgehen.

 

Dieter Wenk (04.04)