27. Juni 2005

Ganzkörperstimmen

 

Bei manchen Kulturalien, die man sich nach längerer Zeit mal wieder zuführt, passiert einem das große Glück, dass man sich selbst in seinem an verschiedenen, schon lange nicht mehr rückverfolgbaren Maßstäben entlanggezottelten Urteil überholt, sodass sich an dem dann sprachlich extrahierbaren Spruch, der zum Beispiel lauten kann: „Das darf doch nicht wahr sein“, oder vielleicht ganz knapp, aber präzise: „Was ’n Scheiß“ eigentlich keine Gründe mehr angeführt werden können, die das noch mal aushebeln. Wenn die betreffende Kulturalie aber mit dem geheimen Geschmackszentrum des Nutzers in dieser Weise ein Dauertreffen veranstaltet, ist eines von beiden nicht mehr zu retten.

 

Keine Frage, wer dabei verliert. Ich habe also diesen unglaublich teuren Film nach langer Zeit wieder gesehen, und mir ist einfach nur schlecht geworden. Es ist dieser ganze physiognomische Stummfilmzauber, der einem da hochkommt, auch wenn man früher Béla Balàsz mal ganz toll fand. Wenn man wieder bei Kräften ist, mag man den immensen Rekonstruktionswillen in seinem eigenen wissenschaftlich gestärkten, aber dennoch abgelegenen archivalischen Stübchen würdigen, aber was hilft es, wenn diese „Effekttradition“ durch einen geschmackssicheren Affekt zerstört ist. Es ist diese ganze Theatralik, die einen völlig wahnsinnig macht. Diese aufgerissenen Augen, die offen stehenden Münder, die den alten Lessing skandalisiert hätten, der doch so schön gezeigt hat, dass so was nur bei Skulpturen funktionieren kann, diese ewig die Brust suchenden Hände, die sich bei nachfolgender Einreibung gar nicht mehr einkriegen können und nur durch auch noch anwesenden Herzsucher in ihrem Gewühle übertroffen werden. Dann diese erhebende Massenrhythmik der Arbeitermassen nach abgeleistetem Dienst, die so schön einmütig hin und her schwanken, dass man gleich mitschunkeln möchte. Unglaublich komisch die wunderbare Geste des Vorarbeiters Grot (Heinrich George), der die Menschmaschinenhexe (Brigitte Helm) auf ihrem Weg zum Scheiterhaufen durch fanatisierte Arbeiter noch so weit in die kleidermäßige Form zu bringen weiß, dass das Röckchen nicht über das Knie verrutscht. Das nennt man Takt bis zum letzten. Eine reine Lust und ein Gipfelpunkt alteuropäischer Pastorale die herzerhebenden Predigten der Maria (schon wieder Brigitte Helm), die ihre Arbeiterschäfchen instantan in die Knie zwingt, wobei sie gar nicht mal so tief in die evangelistische Trickkiste greift. Der Mittler, ja, ja. Die Filmkritik nimmt das gerne auf und redet dann beherzt von einem dritten Weg. Genau. Die drei H’s, das Herz in der Mitte zwischen Hand und Hirn. Das Hirn vermisst man in diesem Film am meisten, schmerzlich. Arbeiter, die nicht bis zwei zählen können, Maria, die ihr Hirn mit der Hoffnung kurzschließt, Freder (Gustav Fröhlich), der die Revolution mit seiner Liebesgeschichte verwechselt. Ein entsetzlicher Eintopf, den Thea von Harbou und Fritz Lang da verbrochen haben.

 

Im April 1927 hat der französische Schrifsteller André Gide diesen Film in der neutralen Schweiz, in Lausanne, gesehen: „Metropolis. Deutscher Film von vollkommen schlechtem Geschmack und kolossal stupide.“ Einwände?

 

Dieter Wenk (06.02)

 

Fritz Lang, Metropolis, D 1926