24. Juni 2005

Wenn der Partner entgleitet

 

Dies ist eine Erzählung, die den Eindruck macht, sie wäre eigens geschrieben worden, um als problemangereicherte Nullpunkt-Prosa im Verbund mit einer Auswahl von ihresgleichen einer wöchentlich im Radio oder Fernsehen zusammentretenden Jury vorgelegt zu werden mit der Bitte: Wie würden Sie entscheiden. Ève Darbédat und ihr Mann waren zum Zeitpunkt ihrer Heirat ein Traumpaar. Was zu diesem Zeitpunkt bei Pierres als Unzugänglichkeit eines poetisch verklärten Traumtänzers verbucht wird, muss nur kurze Zeit später als Aura eines nicht mehr rückgängig zu machenden Debilisierungsprozesses uminterpretiert werden. Eine vor allem auf körperliche Schwächen konzentrierte Variante unter umgekehrtem Geschlechterverhältnis findet sich bei Èves Eltern. Hier ist es die Mutter, Mme. Darbédat, die, wie ihr immer verrückter werdender Schwiegersohn, ihr Zimmer nicht mehr verlässt und für ihren Mann ein immer dramatischer werdender Pflegefall zu werden verspricht.

 

Im Zentrum dieser Erzählung stehen jedoch nicht die beiden Stubenhocker und die Schilderung der Tücken ihres Alltags, sondern die Tochter in ihrem durch verschiedene Pflichtansprüche durchtränkten Spannungsverhältnis zwischen Familie (Eltern) und Gatte. Der Vater hat die Nase voll, das Ritual der ein wenig unerotisch gewordenen Gattinnenpflege aufrecht zu erhalten. So hat er sich die Ehe nicht vorgestellt. Was er sich allerdings als Ehevollzugs-Szenario in den vier Wänden seiner Tochter vorstellt, ist sehr bezeichnend. Mit dem Schwinden der zivilisierenden Vernunft würde Pierre mehr und mehr zum Tier geraten, das die ganze Zeit nur noch seiner Brunst lebte. Genau so haben wir uns die Ehe ja immer vorgestellt. Alles ist erlaubt. Endlich darf man. Und was passiert? Nichts (mehr). Mit dieser irritierenden (und wie sich herausstellen wird: nicht den Tatsachen enstprechenden) Fantasie im Kopf versucht Mr. Darbédat seine Tochter davon zu überzeugen, ihren Mann in ein Pflegeheim zu übergeben und selbst besser ins elterliche Heim zwecks demutsvoller Pflege der Mutter zurückzukehren. Der Tochter brächte das nicht viel, ein Gefängnis gegen das andere.

 

Aber so weit ist Ève noch gar nicht. Sie nimmt den kirchlichen Spruch: ,In guten wie in schlechten Zeiten’ sehr ernst und teilt ihrem Vater deutlich mit, dass ihr Platz in der Dunkelkammer ihrer eigenen Wohnung sei. Der Vater zieht enttäuscht ab, verärgert darüber, dass Ève anscheinend nicht realisiert, was da bei ihr passiert. Höhepunkt der Erzählung ist die private Situation zwischen Ève und Pierre, nachdem der Vater die Wohnung verlassen hat. Ève versucht in einem heroischen Akt, die unbezweifelbare Distanz zwischen sich und Pierre zum Verschwinden zu bringen. Sie ähnelt sich ihm an. Zwingt sich, Dinge zu sehen, die nur in seinem kranken Hirn existieren, forciert, was per se unmöglich ist, Stimmungen, die sie bei Pierre vermutet. Sie will, kurz gesagt, mit einsteigen in seinen kranken Geist. Das ist übrigens eine schöne Stelle als Beispiel für Sartres so wichtiges Konzept der „mauvaise foi“ (Selbstbetrug). Natürlich wird Ève scheitern, sie weiß es, und manchmal weiß sie es eben nicht. Ihr ist klar, welche Situation sie in zwei Jahren erwarten wird: Ein lebender Leichnam, der noch nicht einmal über die körperlichen Kräfte eines „normalen“ Autisten verfügte. Menschlicher Schrott also. Ève nimmt sich vor, Pierre vorher umzubringen. Wird sie es tun?

 

An dieser neuralgischen Stelle hört die Erzählung auf, und der Moderator kann nun, vielleicht nachdem er kurz auf ähnlich gelagerte Fälle hingewiesen hat, die Diskussion eröffnen oder gleich die TED-Knöpfe freigeben. Die Erzählung erschien 1939. Die Diskussion ist noch nicht zuende.

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Jean-Paul Sartre, La chambre, in : J.-P. S., Le mur, Paris 1939 (J.-P. S., Die Mauer, Rowohlt)