24. Juni 2005

Existentialismus für alle

 

Im Dezember 1945 veröffentlichte Jean-Paul Sartre ein umfangreiches „Porträt des Antisemiten“, das in späteren Veröffentlichungen als „Betrachtungen zur Judenfrage“ bekannt geworden ist. Liest man diesen Aufsatz heute, so ist man irritiert über die Korrelierung des historischen Schicksals des jüdischen Volks mit Sartres Philosophie der Freiheit – nicht zuletzt, weil das Wort Konzentrationslager kein einziges Mal fällt und weil der philosophisch intendierte Terminus der „Wahl“ auf eine „Situation“ appliziert wird, in der eine Wahl gerade nicht mehr möglich war. Vielleicht ist diese Irritation mit der pädagogischen Ausrichtung des Essays auf die Zukunft erklärbar. Im Zentrum steht zwar eine Art Porträt „des“ Juden, flankiert wird es jedoch vom Porträt „des“ Antisemiten (Ariers, Christen), denn nur er ist dafür verantwortlich, dass es überhaupt eine „Judenfrage“ gibt. Das Bild des Juden ist gemacht, konstruiert, es dient nicht dem Juden zu dessen Selbsterkenntnis, sondern dem Antisemiten (Arier, Christen) zu dessen Selbstablenkung.

 

Nach Sartre muss, wer Antisemit wird, erst Philosoph gewesen sein. Diese Voraussetzung hat weniger mit Philosophie und Antisemitismus als mit Sartres Existentialismus zu tun. Denn natürlich ist auch der Antisemit ein Existentialist, nur hat er die falschen Konsequenzen gezogen oder ist an einem bestimmten Punkt stehen geblieben. Auch der Antisemit hat also seine Kontingenzerfahrung gemacht, gerät in Furcht und Zittern angesichts der ausbleibenden Antwort Gottes und steht vor der Frage, wie er damit umgeht. Anstatt aber diese exemplarische Situation als Matrix für ein braves Existentialistentum zu verwenden, macht der Antisemit es sich einfach und fügt in die ewig leer bleibende Stelle das Bild eines Sündenbocks ein, den als Juden zu bezeichnen historisch ja durchgängig bewährt ist (und genau hier beginnt ja auch unser historisches Zählwerk). Das Bild des Juden bewahrt den Antisemiten also vor seinem ontologischen Dauerschaden qua schwarzes Loch, aus dem prinzipiell keine Antwort quillt. Das erklärt es auch, warum der Antisemitismus nach Sartre keine bürokratische Disziplin ist („Banalität des Bösen“), sondern sich einer Leidenschaft verdankt, die den Zweck hat, die Nichtigkeit und Bodenlosigkeit des menschlichen Wesens zu verhüllen. Da Sartre den Antisemitismus als „Urphänomen“ begreift, gelingt es dem Juden erst gar nicht, eine Erfahrung von Freiheit zu machen, da er von vornherein mit dem Bild konfrontiert ist, das sich der Antisemit von ihm gemacht hat. So bleibt dem Juden nichts anderes, als entweder stolzen Hauptes ja zu sagen zu dem Bild, das sich der Antisemit von ihm gemacht hat und sich so (!) zu seinem Judentum zu bekennen, oder als „verschämter“ Jude sich vor dieser Verantwortung zu drücken und dabei immer ein schlechtes Gewissen zu haben. Verlieren tut er in jedem Fall. Und doch sieht so die Situation aus, in die sich der Jude hineinzuwählen hat. Tertium non datur.

 

Das Bedenkliche an diesem Aufsatz ist, dass Sartre die Leitunterscheidung Jude/Nichtjude des Antisemiten für sich selbst übernimmt. Eigentlich dürfte doch gerade seine Philosophie der Freiheit, eine Philosophie der Transzendenz, sich nicht so einfach zum Büttel des Schlimmen machen (lassen). Und was hat die schöne Leidenschaft mit Antisemitismus zu tun, dass man sie den armen Schulkindern austreiben soll? Im Untertitel heißt die Studie „Psychoanalyse des Antisemitismus“. Sie, die Analyse, ist ziemlich unbeleckt, vom herkömmlichen Besteck.

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Jean-Paul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage, in: J.-P. S., Drei Essays, S. 108-191, Frankfurt-Berlin 1961 (Ullstein)