23. Juni 2005

Schwierigkeiten beim Sich-Loswerden

 

Probleme, aber auch Chancen mit dem Bekanntwerden einzelner Menschen gibt es nicht erst seit dem Einläuten der Mediengesellschaft. Die memetische Verbreitung des Namens nach dem eigenen Ableben ist die Krux der Unsterblichkeit. Den meisten ist das glücklicherweise egal. Gefährlich dagegen sind die, die an die Spiritualität des eigenen Namens glauben und sich auf die Suche machen, an was sie sich andocken können, um im Schatten dessen, das ein bisschen größer ist als sie selbst, die gnadenlose Vergesslichkeit der Menschen aufzuhalten. Einen gewissen Herostratos kennt man zum Beispiel nur deshalb noch dem Namen nach, weil er die geniale Idee hatte, den Tempel von Ephesos anzuzünden, eines der damaligen sieben Weltwunder. Aber wer kennt schon den Architekten des abgefackelten Wunderbaus? Auch Sensationen lassen sich also noch toppen. Anfang des 20. Jahrhunderts merkten die Künstler, dass sie schneller berühmt wurden, wenn sie erst gar nicht die Ölfarbe anrührten, sondern nur noch, vorzugsweise in Manifesten, artikulierten, was sie später mal machen wollten. Was das anging, waren die Surrealisten gelehrige Schüler der Futuristen. Die Mittel, wie man den Bürger schockieren konnte, gerieten immer radikaler, zum mindesten auf dem Blatt Papier des Manifests. So definierte im zweiten surrealistischen Manifest von 1930 André Breton den surrealistischen Akt wie folgt: „Der einfachste surrealistische Akt besteht darin, mit dem Revolver in der Hand auf die Straße zu laufen und so viel man kann blind in die Menge zu schießen.“

 

Wenn man die Erzählung „Herostratos“ von Sartre liest, darf man allerdings Zweifel haben, ob Paul Hilbert, der Protagonist, obwohl er von außen betrachtet genau diesen einfachen Akt auszuführen scheint, eine surrealistische Tat begangen hat. Paul Hilbert ist ein Einzelgänger. Er geht einer beruflichen Tätigkeit nach, aber sein Privatleben teilt er mit niemandem, abgesehen von gelegentlichen Aufsuchen von Prostituierten, mit denen er jedoch keinen Geschlechtsverkehr unterhält. Paul Hilbert glaubt, er sei mehr wert als andere Menschen. Zugleich hat er Angst vor ihnen. Er verachtet den Humanismus, weil er meint, dass Menschen sich nicht verstehen können. Die Pistole, die er sich irgendwann kauft, tut ihm gut, sie ist so hart wie das Objekt, das er immer für sich behält. Paul Hilbert wohnt im sechsten Stock, er liebt es, auf das Gewimmel der Straße zu schauen. Von oben betrachtet muss man nichts ernst nehmen. Aber Paul Hilbert hat ein Problem. Er muss irgendwie publizieren. Ihm fehlt die Anerkennung. Aber wie soll seine Philosophie akzeptiert werden können? Wie lässt sich ein Anspruch formulieren für etwas, das nicht existiert? Das sich selbst aufhebt? Dieses Problem lässt sich nicht dadurch lösen, dass man mit anderen spricht. Die anderen könnten einen ja reinlegen, auslachen oder so. Also schriebt Hilbert einen Brief, kopiert ihn zweihundertmal und verschickt ihn an die Intelligentsia seines Landes. Es ist ein Rechfertigungs- und Abrechnungsbrief. Anschließend geht er mit seiner Pistole auf die Straße und will möglichst viel Leute umbringen, aber eigentlich sind diese Leute in seinen Augen schon tot, er hilft ihnen nur dabei, etwas schneller ihrer schon bestehenden Bestimmung nachzukommen. Ausführungen von Plänen laufen naturgemäß immer anders ab als gedacht. Nachdem Hilbert die ersten Schüsse abgegeben hat, flieht er in die falsche Richtung. Ein würdiges Sterben in seiner eigenen Bude ist ihm durch sein eigenes kopfloses Handeln verbaut. Er flieht in die Toilette eines Cafés. Er hat noch eine Kugel übrig. Die war für ihn gedacht. Aber er gibt auf (sonst könnte ja niemand diese Ich-Erzählung verbreitern).

 

Was nicht mehr diskutiert wird bei Sartre: wie war die Kindheit Pauls. Hatte er körperliche Makel, die er zu kompensieren versuchte? Konnte er später von seiner sexuellen Perversion geheilt werden? Oder starb er bei der Festnahme? Man hat später jedenfalls nichts mehr von ihm gehört.

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Jean-Paul Sartre, Érostrate, in: J.-P. S., Le mur, Paris 1939 (Jean-Paul Sartre, Herostratos, in: Die Mauer, Rowohlt)