23. Juni 2005

Brunnen: Notieren Sie!

 

Kann man, was passiert, aufschreiben? Was ist das, was passiert? Und passiert überhaupt etwas, oder nur das, was aufgeschrieben wird? Das Andy-Warhol-Zitat, das „1989“, diesem 1500 Seiten starken „Material“, vorangestellt ist, liest sich sehr elegant und suggeriert eine enge Verknüpfung von happening und taping: „and trying to figure out what was happening – and taping it all.“ Der Größenwahn besteht in den kleinen Wörtern „it“ und „all“. Denn was heißt das schon, 24 Stunden die Kamera auf etwas draufzuhalten. Falsche Hochachtung vor dem Objekt. Man muss ja doch schließlich Sätze bilden, die Kamera mag weiterlaufen oder auch nicht. „1989“ gibt sich aus als „Zeitmitschrift der großen öffentlichen Rede in den Medien“. Sätze, Halb-, Viertelsätze, isolierte Worte, Namen (einzeln, im Rudel), untereinander geschrieben, vor allem im dritten Band meist nebeneinander als zwei Kolumnen, von denen jeder selbst entscheiden mag, in welcher Ordnung er das liest oder entziffert, es gibt keine Verweise auf den konkreten Ursprung des jeweiligen Materials, vielmehr gilt als Ursprung eben jene schon zitierte „große öffentliche Rede“, die sich differenziert in Radio, Zeitschrift, Fernsehen, Zeitung. Man sieht sich einer unkommentierten Collage gegenüber (teleologisch als Hintergrund für „Festung“), die es außerhalb der vier Wände dieses Buchs nicht noch einmal gibt.

 

In diesem Auswahlprinzip steckt die Tat des Autors Goetz. Die Zeit vom 10.2.1989 bis zum 3.10.1990 hätte jeder anders mitgeschrieben, was nicht notwendigerweise bedeuten muss, dass dabei gravierend andere Sachen dabei herausgekommen wären. Jeder unterliegt dem Anschluss an die große öffentliche Rede. Das ist in den allermeisten Fällen der einzige Zugang zur Realität. Und in den allermeisten Fällen ist diese große öffentliche Rede auch die einzige Wirklichkeit, über die man in einem etwas mehr als rein subjektiven Sinn (sprich: Kopfschmerzen am Morgen usw.) verfügt. „1989“ ist somit nicht nur Material, sondern auch Modell der Wirklichkeitskonstitution, das stellvertretend für viele wenn nicht alle ein Autor sprachlich entwirft. In der Art und Weise, wie das Material angeordnet ist, mag man an die signifikanten drei Sekunden denken, die beispielsweise der Gehirnforscher Ernst Pöppel als rhythmisches Prinzip der Wirklichkeitsaneignung ins Spiel gebracht hat. Nach etwa drei Sekunden verliere die Wahrnehmung ihre Ausrichtungsintensität und müsse erneuert oder auf ein anderes „Objekt“ gerichtet werden (Freuds „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ wäre in dieser Hinsicht ein Mythos, wenn auch ein heuristischer).

 

In diesen drei Materialbänden gibt es keine durchgängigen Zeilen, etwas wird angedeutet, fallen gelassen oder in der nächsten Zeile wieder aufgenommen, um ebenfalls nach drei, vier Wörtern abzubrechen. Das Prinzip heißt Unvollständigkeit, Durchmischung, Montage, was teils witzige, teils irritierende Momente hervorbringt, im großen und ganzen versucht man als Leser aber doch, einen irgendwie kohärenten Text zu erstellen, trotz der Lücken der Vorlage. Diesen Zwang zur Eindeutigkeit bringt also der Leser mit. Inhaltlich findet man alles, was in dieser Zeit „passiert“ ist, Boris Becker, den Fall der Mauer, die Festnahme der RAF-Terroristen auf dem Gelände der zerbröckelnden DDR, die Fußballweltmeisterschaft 1990 und die Wiedervereinigung. Ein Buch zum Blättern. Im normalen Sinn lesen lässt es sich kaum (oder: als Gedicht: letztes Wirt von s’ Janze: Hölderlin). Aber vielleicht hält es manches von dem fest, was es in der wirklichen Wirklichkeit einfach nicht mehr gibt.

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Rainald Goetz, 1989 (Material), Festung 2.1 – 2.3, Frankfurt am Main 1993 (Suhrkamp)