14. Juni 2005

Angriff!

 

Es ist kein Buch, das man aufschlägt, es ist ein Stein, den man anhebt. Ein Stein, der in den Niederungen der amerikanischen Gesellschaft fest steckte und nun den Blick freigibt auf eine irritierende Unterwelt. Auf das eigenwillige Leben der Gestrandeten und sozial Verwahrlosten. Menschen etwa, die vom Gleichschritt ihres Alltags so sehr betäubt sind, dass nur ein kräftiger Faustschlag ins Gesicht sie aufwecken kann. "Nirgendwo bist du so lebendig wie im Kampf", heißt es in "Fight Club", Chuck Palahniuks (sprich: Paul-Ah-Nick) erstem und nach der Verfilmung mit Brad Pitt und Edward Norton bekanntestem Buch.

 

 

Oder Menschen wie Misty Kleinmann. Sie wollte Künstlerin werden und findet sich nach der Kunsthochschule plötzlich in das kleinbürgerliche Leben der Kellnerin eines Inselhotels wie in einen Käfig gepfercht. Nicht einmal Alkohol macht die Dumpfheit ihres Daseins erträglich. "Es gibt zahllose Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen, ohne wirklich zu sterben." Wie Palahniuks das karge, bemitleidenswerte Leben seiner Verlierertypen zu einem düsteren, faszinierenden Paralleluniversum ausbaut, diese Kunst hat den 43-Jährigen zu einem der erfolgreichsten Autoren Amerikas werden lassen.

 

Misty ist die Hauptfigur in "Das letzte Protokoll", Palahniuks jüngstem ins Deutsche übersetzten Roman. Sie notiert die Geschichte in ihrem Tagebuch, für ihren Mann, der nach einem Selbstmordversuch im Koma liegt. Wenn er wieder aufwacht, soll er wissen, was für ein armseliges, tristes Leben er seiner Frau eingebrockt hat. Aber er wacht nicht auf, und Mistys Leben wird nicht besser. Es wird schlimmer. Schauplatz der Geschichte ist eine Insel, deren Bewohner alte, traditionsreiche Familien sind, die ihr Vermögen verloren haben und nun als Zimmermädchen und Rezeptionisten für die einfallenden reichen Sommerfrischler arbeiten müssen. Um ihr Vermögen zurückzugewinnen, wollen sie Mistys künstlerisches Talent nutzen.

 

"Fast alle meine Charaktere könnten weiblich oder männlich, schwarz oder weiß sein", sagt Chuck Palahniuk mit seiner weichen Hörspielstimme, die so gar nicht zu jemandem passen will, der jahrelang als Automechaniker gearbeitet hat. "Geschlecht und Ethnizität spielen keine Rolle. Wichtig ist allein, was sie tun: die Verben." Und es sind die Verben, die seine Geschichten nach vorne peitschen, seine Plots zu abenteuerlichen Serpentinenstrecken ausbauen, die manchmal fast übernatürlichen Wendungen folgen. Im Roman "Lullaby" waren es Spukhäuser und eine sprechende Kuh, in "Das letzte Protokoll" ist es ein uralter Zyklus, der in einer überspitzten Form des Stendhal-Syndroms mündet, der Überwältigung durch die Schönheit eines Kunstwerks.

 

Natürlich hat Palahniuk Recht, wenn er sagt, "die fantastischen Elemente meiner Büchern spielen nicht in der gleichen Liga wie etwa Tolkien". Sie hätten eine Basis in der Geschichte. "Dass die Maklerin in "Lullaby' mit Spukhäusern handelt, zeigt nur, wie unwillig sie ist, den Tod zu akzeptieren." Auch dass in "Protokoll" ganze Zimmer verschwinden, dass Frühstücksecken abhanden kommen und sich Küchen in Luft auflösen, hat seinen Grund. Es sind dünne Fäden, die sich schließlich zu einem Strang verdichten. Chuck Palahniuks Bücher sind so gut, weil nicht wenige dieser Fäden die Stärke hätten, einen eigenen Roman zusammenzuhalten.

 

Wie in "Haunted", seinem jüngsten, noch nicht übersetzten Roman. Darin entwirft er eine Vielzahl autarker Kurzgeschichten, die sich schließlich alle zu einem schillernden Gesamtbild fügen, wie ein Kaleidoskop, das scharf gestellt wird. Bücher müssten heute mit so vielen Attraktionen konkurrieren, findet Palahniuk, ihnen bliebe nichts anderes übrig, als schnell und kurzweilig zu sein. "Mein ideales Buch handelt vom verpfuschten Leben eines Typen und lässt sich auf einem Langstreckenflug lesen." Und schnell sind seine Romane, getrieben von einem Stakkato kurzer, harter Sätze. Kurzweilig auch. Nicht ohne Grund sind bis auf eine Ausnahme alle bereits als Filmvorlage verkauft.

 

Banal sind sie deshalb nicht. Schärfer noch als der Plot mit seinen unbestreitbaren Thrillerqualitäten schält sich aus "Das letzte Protokoll" die innige Hassliebe auf die alltägliche, gescheiterte und doch nicht aufgegebene Ehe heraus: Gesteinigt von stillen Wünschen, zerrissen von unerfüllten Bedürfnissen, erdrückt von sozialen Erwartungen und doch immer wieder aufgerichtet von symbiotischen Abhängigkeiten. Palahniuk genügt alleine Mistys Tagebuchperspektive, dieses tot geschriebene Schema verblüffend plastisch wieder zu beleben.

 

Und dann ist da, anders als in Palahniuks früheren Büchern, auch noch eine dezidiert politische Ebene. Sie lässt "Das letzte Protokoll" wie das Buch zur aktuellen deutschen Debatte erscheinen. Nur dass die Heuschrecken hier "Sommermenschen" heißen. Er habe das Buch auch als Angriff auf den globalen Kapitalismus geschrieben, sagt er. "Jeder mit genug Geld kann eine existierende Kultur besetzen und zerstören. Mit den Inselbewohnern wollte ich hier eine Kultur zeigen, die sich zur Wehr setzen kann und die reichen Invasoren zerstört. Das sollte öfter passieren."

 

Gregor Kessler

 

Chuck Palahniuk ,"Das letzte Protokoll", Manhattan, 288 S., 19,90 Euro

 

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