11. Juni 2005

Bahnhof auf Chinesisch

 

Wer hätte 1968, mit einem Zwinkern in den Augen, die Frage stellen können mit Blick auf Sollers’ Buch: Geht’s nicht noch ein bisschen abstrakter? Reale Studenten kreuzen CRS, Barrikaden brennen, auf Wänden steht die schöne Losung: Seid realistisch, fordert das Unmögliche. Auf seine Art löst Sollers die Forderung ein, er schreibt auf, was nicht aufhört, sich nicht zu schreiben. Denn wer das lesen, gar verstehen soll. Gar nicht dran zu denken. Weder Schul- noch Seminarlektüre. Das hat der alte Lacan auch gemerkt, und haute sich auch gleich noch selbst auf die Schulter. Unlesbar, wir zwei. Damals ein großes Privileg. Wahrscheinlich galt es als Können. Avantgardistisch allemal. Joyce kroch überall rum. Aber wahrscheinlich war der doch ein bisschen genialer. Hinter dem Text von Sollers steht rein gar nichts. Es irritiert, wenn die Worte von Geschlechtsteilen fallen, sie bringen es nicht zu Wörtern. Als ob ein Registerwechsel sich vollziehen solle/wolle? Nein, alles auf der gleichen Konstruktionsebene, ein Schreiben ohne Gegenüber, ein Ariadnefaden ohne Theseus und Minotaurus, ein sich selbst lesen sollender Text, hier kann entschieden keine Subjektivität eingebracht werden, à la: nein, ich würde das aber doch ein wenig anders sehen... Denn es gäbe keine gemeinsame Folie, vor der...

 

Also gibt es da 100 Textschnipsel, halb vom Autor, halb aus dem altchinesischen neomaoistischen Zitatenschatz, eingeführt jeweils von einer Zahlenkombination von 4 Ziffern. Gebetsmühlenartig, unendlich ließe sich das weiter spinnen, die Dramatik ergäbe sich aus der völligen Ermüdung beim Lesen, die nichts mit irgendeiner Konkretion des Textes zu tun hätte. Wollte er den richtigen Nouveau Roman schreiben? Alte Bundesgenossen ärgern sich nach einer Weile ja immer so bitter. Robbe-Grillet radikalisiert, wirklich alle Register jetzt gezogen, weg mit dem Subjekt, der Handlung, der Zeit, dem Ort, alles findet wirklich nur noch auf genau dieser Oberfläche des Papiers statt, ohne Wegweiser, Amputierung des Zeichens, es hat sein Signifikat verloren, nachdem vorher, also vor Sollers und anderen, auch schon der Referent auf der Strecke blieb, abgehängt, weil zu ballastartig, stellte sich irgendwann als zu schwer heraus.

 

Das schafft Platz für Eleganz. Reduktion. Entlang der Bildungslesereise. Es kann immer mehr vergessen werden. Weil immer mehr schon eigens mitgebracht wird. Um noch länger dranzubleiben. Wie weit man das treiben kann. Ist bald Schluss? Das Ende, ein Ende schlägt einen Bogen, einen wieder voll erleuchteten Regenbogen, einen hysterischen Bogen, unter dem wieder mächtig viel Platz hat, die Schärfung der Sinne geht wieder in die andere Richtung, verteilt sich auf Flächen, die vorher unbekannt, vergessen, verpönt waren, ein Netz ist gespannt, dem man davor keine Spannung hätte abgewinnen können, vielleicht ein chinesischer Zirkus mit seinen 4000 Zeichen, die man nie wird lernen können, noch nicht einmal die Zahl-Buchstabenarithmetik dieses Textes. Vergiss die Zahlen, vergiss nombres.

 

Dieter Wenk (12.00)

 

Philippe Sollers, Nombres (Paris 1968, Seuil)