5. Juni 2005

Vorname: Inspektor

 

Schlösser haben ihre eigenen Gesetze. Die ihrer maroden Bewohner, einer geschlossenen, gefräßigen Gesellschaft. Z.B. dass die Zeit nicht weitergehen darf. Stehen deshalb so viele Uhren herum? Sie zeigen die Zeit weniger an als dass sie das Museum der Zeit sind, verwaltet von einem Uhrmacher, der früher ein Schönheitschirurg war, dessen wichtigste Operation, die an seiner eigenen Frau, ihm misslungen ist, weswegen man ihm die Lizenz entzogen hat. Neben den vielen Uhren können die zahlreichen Touristen ausgestopfte, präparierte Tiere an allen Ecken und Enden des Schlosses bewundern. Was sie nicht sehen können, ist das Tribunal, der Knoten der Zeit des Schlosses, dem sich niemand entziehen kann, der einmal versucht hat, daran zu zupfen.

 

Wie etwa die arme Christine, Schwester Bernadettes, welche Inspektor Lavardin (Jean Poiret) mit drastischen Mitteln nötigt, seinen Angelurlaub abzubrechen, um nach Portugal, wo das Schloss steht, zu reisen und sich auf die Suche nach Christine zu begeben. Natürlich ist Liebe im Spiel. Der jüngste Nachfahre im Schloss, unter Drogen gehalten, um dem Tribunal tagtäglich zur Verfügung zu stehen und das dortige Gesetz mit zu beglaubigen, verliebt sich in Christine und bringt Unruhe in die große Bude. Nach und nach erfährt Lavardin, dass sie nicht die einzige ist, die zwar in das Schloss hineingegangen ist, aber offensichtlich nicht mehr herauskam. Neben der Liebe ist natürlich Geld der zweite Unruhestifter. Vor langer Zeit, genau vor 25 Jahren, betrat ein Ehepaar das Schloss, um die Spielschulden des Schlossbesitzers einzutreiben. Das konnte natürlich nicht gut gehen. Wie vom Erdboden verschluckt, wird das Ehepaar mitsamt Auto und allen wichtigen Dokumenten nicht mehr gesehen. Und da die eigentliche Zeit des Schlosses die Zeitlosigkeit ist, gibt es auch einen besonderen Raum für diese Realität außerhalb aller Realität, eben das Tribunal.

 

Dort herrscht er, der angeblich Selbstmord verübt hat, der letzte Herrscher und Prasser, vor einer erlauchten kleinen Schar von Figuren, die allesamt der medizinischen Kunst des Einbalsamierens ihre museale Rolle der Zeugenschaft verdanken. Aus Opfern werden Richter, auch wenn sie nichts mehr zu sagen haben. Neben dem verrückt gewordenen Alten thront die tote Gattin, und im Rondell sitzen all die, die etwas mehr sein wollten als uniformierte Touristen, die zwar alles aufnehmen, aber nichts sehen. Letzter Neuzugang ist natürlich Christine, und nach einem erfolglosen Besuch beim Medizinmann, an dessen Stelle die monströse Gattin Lavardin empfängt und für einen kurzen Moment ihr morphinistisches Geigenspiel unterbricht (Franjus „Augen ohne Gesicht“ aus 1959 lassen grüßen), ist Lavardin beinahe selbst Opfer der Killer der Zeit, die genau in dem Moment wieder weitergeht, als der resignierte Arzt sich in einem Akt der Selbstopferung in die Höhle des Tribunals mit einem um seinen Kopf geschlungenen Seil fallen lässt und so der toten Zeit ein Ende bereitet. Die anstehende Selbstjustiz des Clans ist dann nur noch eine Frage der Ehre: Adel verpflichtet.

 

Dieter Wenk (07.00)

 

Christian de Chalonge, Inspektor Lavardin : Das Schloss der Gehenkten, Frankreich 1988 (Le chateau du suspendu); Co-Drehbuch: Claude Chabrol