28. Mai 2005

Zwischenbericht

 

Mit oder ohne Einführung: „homo sacer“ bleibt eine dubiose Figur. Mehrere Zumutungen bestürmen den Leser: Es soll zunächst für die Geltung dieser Figur gleich sein, ob sie zur Zeit ihrer Erfindung im römischen Recht überhaupt realisiert, also als Fall verhandelt wurde. Erster Zug der Gespensterbahn. Im Laufe der weiteren abendländischen Geschichte soll „homo sacer“ alsdann vollends abgetaucht sein, was man elegant seine Latenzphase nennen kann. Zweiter Zug der Gespensterbahn. Mitten in der Zeit der die fortgeschrittensten Industrieländer treffenden Säkularisation, also um 1900, taucht seine Heiligkeit wieder auf, um Platz zu nehmen im „Lager“, dem verdeckten Organisationsprinzip moderner Staaten (totalitär wie demokratisch). In gottlosen Zeiten wie diesen hat „homo sacer“ mit der Schwierigkeit zu tun, dass er nicht den Göttern geopfert werden darf. Dritter Zug der Gespensterbahn. Gleichwohl darf er von allen und überall getötet werden. Das ist dann der Ausnahmezustand, der so sehr verallgemeinert ist, dass er schon die Regel geworden ist. Dann mal los.

 

Die Problematik akademischer Verhandlungen besteht ja immer darin, dass man den Gegenstand, den man behandelt, ernstnehmen muss. Steckt man da erst mal drin, kommt man aus der Seriosität so schnell nicht wieder raus. Thesen werden auf Vorläufer untersucht, man macht explizit (oder versucht es), was dem untersuchten Autor vielleicht selbst nicht klar war, man betreibt Ideen- oder Diskursgeschichte, und schon hält einen der schönste Komplex gefangen, aus dem man sich nicht mehr befreien kann. Letztlich weiß auch Eva Geulen nicht, was es mit dem „homo sacer“ heute auf sich hat. Wie er sich operationalisieren lassen könnte. Leider weiß man das jetzt schon nicht, noch bevor das so genannte Homo-Sacer-Projekt zum Abschluss gekommen ist. Man wird den Verdacht nicht los, dass da jemand, also Agamben, versuchte, ein Geheimfach der Geschichte zu öffnen, in dem sich der Schlüssel zu dem befindet, wie es wirklich war. Nun ist gegen neue Erkenntnisse oder Ansätze gar nichts zu sagen, im Gegenteil. Aber der Ansatz eines Aha-Effekts sollte sich beim Lesen schon bemerkbar machen.

 

Bei aller Liebe zum Detail vermag auch Eva Geulen als Übersetzerin nicht einzuspringen. Es muss doch möglich sein, Substantielles über den Ausnahmezustand, Opfer- und Tötbarkeit zu erfahren, ohne Rekurs zu nehmen auf die sowieso schon an Aberwitz kaum noch zu toppende Parabel Kafkas „Vor dem Gesetz“, an dem sich natürlich alle großen Geister versucht haben und an deren Deutungen sich der verzweifelte Versuch ablesen lässt, den Stein des Weisen zu finden, die Letzterklärung zu liefern, um endlich sagen zu können, wo es lang geht. Mit dem Doppelaphorismus des „homo sacer“ kriegt man die Welt jedenfalls nicht in den Griff. Man gerät zudem in die blöde Lage des restaurativen Abklopfens. Leider trägt diese Einführung zum Verständnis Agambens nicht viel bei. Wer Giorgio Agamben liest, darf vermuten, dass das nicht in erster Linie an der Autorin liegt.

 

Dieter Wenk (05.05)

 

Eva Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg 2005 (Junius)