18. Mai 2005

Volles Versprechen

 

Einer, der den lieben langen Tag auf der Lauer liegt, was da kommen möge, sich der Zeit widmet, die – an nichts gebunden – vergeht, auch ohne ihn: Das ist Wellenberg, das (vermeintliche?) Alter Ego des Schriftstellers Kurt Aebli, der sich als Lebender selbst beobachtet und sich den Fragen hingibt, die da durch seine Windungen und Blutbahnen strömen. Als solcher ist er „ein Erzähler, der systematisch gegen sich arbeitet, der seine ursprüngliche, im Grunde zu Unrecht bei ihm vorausgesetzte Intention verleugnet, aus den Augen verliert, dem es nicht aufs Erzählen ankommt, sondern darauf, sich zu verzetteln, tausend Haken zu schlagen, an Ort und Stelle zu treten und dabei sich selber ein Bein nach dem andern zu stellen.“

 

Dass dabei keine geordnete Schrittfolge entsteht, leuchtet ein. Daher ist das Textprojekt des Schweizers ein offenes und bietet alle Möglichkeiten: Prosa, Lyrik, Essay, philosophischer Diskurs, zusammengehalten von Kübeln existentialistischen Bitumens. In einzelnen Absätzen werden beobachtete Phänomene und Zusammenhänge angeführt, die an keine (störende) Handlung gebunden sind. Hier ist jemand und ruft nicht. Vielmehr zeigt ein Pfeil auf einen, der als Fragezeichen und mehr als Empfänger, denn als Sendender „bei sich bleiben“ will. Das ist seine Losung. Und dass das (nicht nur heutzutage) kein leichtes Unterfangen ist, davon kündet dieses großartige Buch.

 

Wellenberg zersetzt, was sich ihm als störend in den Weg stellt. Was er sieht, ist bereits verloren. Er zersetzt durch Skepsis, Annihilation, durch Mangel an Heuchelei, durch totale Aufrichtigkeit und eine luxuriös zu nennende Weltfremdheit und Distanz. „Ich bestehe nur aus Schlaglöchern“, heißt es im Poem, „Dünner als der Einschnitt in einer Schmerztablette.“

 

Was bleibt, ist die Schönheit der Erkenntnis.

 

„Unser größeres Ich, über welches wir keinerlei Verfügungsgewalt haben, welches ein Eigenleben führt jenseits der Logik und der Intention unserer Gedanken und Worte, welches sich uns entzieht, während wir an irgendwelchen Vorstellungen festhalten, uns an etwas verlieren, das uns verläßlich dünkt. Um faßbar zu bleiben für andere, für uns selbst, verwechseln wir uns mit etwas Begrenztem, für das wir jederzeit einen Namen haben und mal diese, mal jene Definition. Wir wollen nicht hören oder gezeigt bekommen, daß es sich um etwas eigentlich ganz Vages handelt, um das Vergängliche schlechthin, und klammern uns daran, obwohl wir im Innersten wissen, wie schnell bereits beim schwächsten Zweifel schlichtweg alles ins Wanken gerät.“

 

Um drei Zeilen später zu berichten:

 

„Im Supermarkt beobachtete er ein Individuum, das einen Sturzhelm als Einkaufskorb verwendete, wobei zum einen der Kinnriemen als Henkel diente und zum anderen der Mann seinen Einkauf, bestehend aus in Plastikhüllen eingeschweißten Würsten, im Hohlraum, den üblicherweise der Kopf ausfüllte, zur Kasse trug.“

 

Angesichts fragwürdiger Utopien, gesellschaftlicher Rohentwürfe, postmoderner Versandungsstrategien und Beschönigungen von Politikern: Dieses Buch ist eine Wohltat, eine Erdung in das, was sagbar ist. Ohne falsche Versprechen.

 

Carsten Klook

 

Kurt Aebli: Der ins Herz getroffene Punkt, Urs Engeler Editor 2005

 

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