4. Mai 2005

Schöne Verfremdung

 

Jeder weiß, was ein schnelles Auto ist. Niemand aber kennt den perfekten Menschen. Wie auch? Wie hätte man ihn sich vorzustellen? Allein? Er würde zugrunde gehen unter seines Ungleichen (übrigens ein indirekter Gottesbeweis: Gott ist perfekt, aber kein Mensch, also hat er nichts mit uns zu tun, also schön in Ruhe lassen). Gibt es ihn nur in einer perfekten Gesellschaft? Kann man sich auch nicht besonders viel drunter vorstellen. Allein die schlimme Ontogenese, die jeder mitmachen muss.

 

Dass auch die Pubertät kein Zuckerschlecken ist, weiß auch Jørgen Leth, der den perfekten Menschen, in männlicher und weiblicher Ausführung, etwa 25 Jahre alt sein lässt. Die beiden Modelle sind europäisch, genauer: dänisch, genau weiß man das allerdings nur beim Mann, die Frau spricht nicht. Eine englischsprachige Stimme aus dem Off, der man gerne zuhört und die die Souveränität einer markanten Didaxis hat, präsentiert den „perfect human“ im rigiden Interieur eines White Cube. Wir kennen diesen hier vorgestellten Menschen. Äußerlich. Und von außen wird er uns noch einmal mehr oder weniger genau gezeigt. Wir bekommen das Ohr des perfekten Menschen gezeigt (männlich/weiblich), wir werden auf das Auge des perfekten Menschen hingewiesen (männlich/weiblich), auf das die Kamera hinzoomt, und in dem Augenblick, wo das Auge aufgeht, merken wir, dass das Auge ziemlich allein dasteht. Nach den wichtigsten körperlichen Merkmalen führt uns der unbestechliche Erzähler die Kleidungsstücke in Form eines kurz angedeuteten Strips vor.

 

Der Erzähler sagt manches zweimal („look at all of this now – look at all of this now“), wir kommen dem gerne nach, die beiden Menschen schauen ja wirklich nicht unangenehm aus. Dann sind wir auch schon im Schlafzimmer des perfekten Menschen. Wir sehen ein Bett, auf das uns die Stimme aufmerksam macht, und wir erfahren, dass die beiden Menschen, die im Bett liegen, unter frischen Laken gebettet sind. Dann sieht man, wie die beiden Menschen Liebe machen. Das ist die kürzeste Sequenz, vermutlich sind die beiden gleich zur Sache gekommen, perfekt ultraschnell, aber vielleicht ist das eine Sache, die die beiden Körper noch nicht so gut beherrschen, frei nach dem Motto: nobody is perfect, aber das ist nur eine ganz private Vermutung. Nachdem wir uns an der Liebesszene satt gesehen haben, sitzt der perfekte Mensch zu zweit am Essenstisch (immer noch in dem bekannten weißen Ambiente) und teilt sich Portionen zu von einem perfekt aussehenden Essen, von dem wir nicht wissen, wer es angerichtet hat. Der Zuschauer muss trotz der bekräftigenden Worte des Erzählers, dass es sich nach wie vor um den perfekten Menschen handelt, vor sich selber eingestehen, dass die Portionierung des Gerichts nicht ganz so perfekt vonstatten geht. Eine gewisse Lieblosigkeit führt des Mannes Löffelhand. Oder haben wir das einfach nicht richtig als Coolness gewertet?

 

Der weitere Verlauf des Films gibt uns recht. Denn jetzt sitzt der perfekte Mensch (männlich) allein am Tisch und wirft, während er weiterhin isst und trinkt, mal verloren lächelnd, mal sarkastisch schauend, ein paar Fragen in den Raum, der nach wie vor so weiß ist, dass auch uns keine Antworten auf die Fragen einfallen: Warum ist das Glück so kapriziös? Warum dauert die Freude nur so kurz? Warum ist sie gegangen? Auch für die letzten Bemerkungen des Films hat sich der Erzähler dezent zurückgezogen und überlässt dem perfekten Menschen (männlich) das letzte Wort. Ihm sei, so sagt er, eine komische Geschichte passiert. Vielleicht, so endet er, verstehe er „in a few days“.

Wir haben schon jetzt verstanden und danken dem Regisseur für dieses präzise ironisch-klassische Lehrgedicht, das zu nichts führt, aber vielleicht doch ein paar Taue kappt.

 

Dieter Wenk (04.05)

 

Jørgen Leth, Der perfekte Mensch, Dänemark 1967, 13 Min. (Det perfekte Menneske)