20. April 2005

Erst die Geschichte, dann der Autor

 

Der, die, das. Wie Antworten auf den Titelsong der "Sesamstraße" klingen die Titel von Franz Hohlers Erzählungen: "Die Torte", "Der Schimmel", "Die Mönchsgrasmücke". Alle zehn Überschriften bestehen aus einem Artikel und einem Substantiv. So einfach, so klassisch. Nur werden Fragen nach dem Wieso, Weshalb, Warum vom Autor, der viele Jahre erfolgreich als Kabarettist durch die Welt tourte, absichtlich nicht beantwortet. Jede Geschichte lässt trotz ihrer jeweiligen Abgeschlossenheit eine schlaue Leere zurück.

 

 

Die Vernunft steht bei Hohler nicht hoch im Kurs, zu sehr bricht das Ungewöhnliche in die Geschichten ein und widerspricht der Planbarkeit von Ereignissen. Aber die Sprache und die Erzählhaltung Hohlers driften nie ins Sentimentale oder gar Belehrende ab. So kann man die Geschichten als aufklärerische Denkversuche lesen, das Alltägliche zu transzendieren. Teils unaufgeregt, wenn ein Ehepaar den Mönchsgrasmücken in ihrem Garten zusieht, teils surreal, wenn eine Frauenärztin auf einem Schimmel ins Mittelalter reitet, um dort einer Geburt beizuwohnen.

 

 

Auch Spannung beherrscht Hohler. In der Titelgeschichte soll im Jahre 1925 ein Anschlag auf die Politiker der Locarno-Konferenz verübt werden. Zu dem Attentat kommt es jedoch nicht. "Ich war einsam, elend und arm und ich war täglich um Leute herum, die gesellig, fröhlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist", beschreibt der fast hundertjährige Möchtegern-Täter rückblickend die Ereignisse. Doch kurz bevor er die Torte mit Sprengstoff zünden soll, besinnt er sich, dass er "auf keinen Fall in die Weltgeschichte eingehen" wolle, bevor er nicht mit einem Mädchen ausgegangen war. An den Kommunismus will er von nun an nicht mehr glauben, "wenn man für ihn so nette Leute wie Herrn und Frau Chamberlain umbringen müsse und erst noch selbst draufgehen dabei".

 

 

Dass Liebe einen zu aberwitzigen Taten verleiten oder in diesem Fall davon abhalten kann, ist noch nicht allzu unwahrscheinlich. Ganz absurd wird es aber, wenn eine Frau einer Waschmaschine entsteigt und einem Derrida-Spezialisten seine erkenntnistheoretischen Grenzen zeigt. Oder in der Gespenstergeschichte mit dem Titel "Die Rechnung". Im Futter eines nagelneuen Mantels befindet sich dieser ominöse Beleg vom 24. Juni 1938. Die Nachforschungen, wie das Schriftstück dort hingekommen ist, bleiben ergebnislos. Seltsamerweise stimmt der Betrag der Rechnung aber mit dem alljährlichen Fehlbetrag in der Buchhaltung des Modegeschäfts überein. Ein Spuk, der auch vor dem ehemaligen Wohnsitz des vor 66 Jahren geprellten jüdischen Schneiders nicht Halt macht. Zwei edle Menschen zahlen die Schuld aus eigener Tasche an die Tochter des Juden zurück und beenden damit den Spuk. Auch hier wird wie im Märchen und in vielen Geschichten von Hohler zum Schluss geheiratet. Nicht immer gibt es ein solches Happyend, aber ohne Ende macht er es nicht.

 

 

Was einen bei diesen wundersamen wie wunderbaren Erzählungen verwundert, ist der Gutmenschen-Ton, der alles durchzieht. Themen wie Fremdenhass, Terrorismus und Wiedergutmachung wirken allzu plakativ eingearbeitet. Wie gesagt, nie belehrend oder moralisierend, aber aufdringlich in ihrer weltverbesserischen Nettigkeit. Mag sein, dass es dem Alter des Autors, geboren 1943, geschuldet ist. Kann sein, dass ihn ein Ausgleich zu seiner kabarettistischen Vergangenheit dazu bewog. Von einer moralischen Botschaft möchte Hohler allerdings gar nichts wissen: "Es sind immer zuerst Geschichten, die einem Motiv folgen, und dann trete ich zurück und schaue mir das an. Das Plädoyer ist dann erst die Auslegung", gibt Franz Hohler den Ball an den Leser zurück.

 

 

Gute Geschichten haben viele Schichten. Neubeschreibung heißt das in der Sprachphilosophie, wenn sich Kausalketten und Handlungen auch ganz anders nacherzählen lassen. Dichte Beschreibung in der Ethnologie. Der Kulturforscher folgt gleichzeitig vielen Erzählsträngen und reflektiert bestenfalls auch seine eigene Stellung ironisch mit.

 

 

Genau das ist es, was Hohler in seinen besseren Erzählungen gelingt. Wenn er übertreibt, parodiert, ironisiert und in die Details geht, Personen und Orte detailgetreu ausleuchtet. Das Übersinnliche oder Moralische nimmt dann keinen privilegierten Platz mehr ein. Der Alltag, wie Franz Hohler ihn beschreibt, ist selbst schon absurd genug.

 

Franz Hohler: "Die Torte". Erzählungen. Luchterhand Verlag, München 2004, 208 Seiten, 19 Euro

 

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taz Magazin Nr. 7635 vom 9.4.2005, Seite VI, 127 Zeilen (Kommentar), GUSTAV MECHLENBURG