19. April 2005

Hegels Nachgeschichte

 

Der vorliegende Entwurf stellt nach des Autors Angaben einen „Seitenflügel des ,Sphären-Projekts’“ dar. Man könnte ihn aber genauso gut die Predella der vorhergegangenen Trilogie nennen, denn das in zwei Großabschnitte zerfallende Buch zählt immerhin 42 mehr oder weniger umfangreiche Kapitel, die sich als nachgereichter Kommentar oder auch einfach als auf dem Kopf stehendes Sahnehäubchen lesen lassen. Immerhin erwarten den Leser gut 400 Seiten „einer philosophisch inspirierten großen Erzählung“, die es sich zur Aufgabe macht, „Umrisse zu einer Theorie der Gegenwart zu liefern“. Lyotards Epitaph, unter dem die großen Erzählungen ihre vorerst letzte Ruhestätte gefunden hatten, lässt Sloterdijk mit dem Argument links liegen, dass jene Erzählungen zu klein waren, um die Fülle der Gegenwart zu tragen. Was Botho Strauß in „Paare Passanten“ mit dem dialektischen Denken machte, unternimmt Sloterdijk mit dem Poststrukturalismus: entsorgen; Strauß tat es mit schlechtem Gewissen (keine Frage, wenn man dadurch aufgefordert wird, die Dummheit zu umarmen), Sloterdijk mit dem Argument, dass es mal wieder Zeit ist, „die partielle Lähmung des Denkens“ aufzuheben. Die jüngste Philosophie war die alte Schildkröte des Zenon, die es nicht schaffte, der hinter ihr dräuenden Metaphysik in Gestalt des Achilles zu entkommen. So konnte es in der Tat nicht mehr weitergehen. Philosophie geht nicht in Integralrechnung auf.

 

Sloterdijk schließt dieses Kapitel, indem er die Geschichte Geschichte sein lässt und mit seinem in den letzten Jahren entwickelten Begriffsinstrumentarium zu erkunden versucht, was es heißen könnte, die Jetztzeit als „Posthistoire“ zu begreifen. Um das verständlich zu machen, muss Sloterdijk gleichwohl die ganze Geschichte noch mal von vorne erzählen. Und am Anfang, das wissen Sloterdijk-Leser mittlerweile, war nicht das Wort, auch nicht die Tat, sondern die Kugel. Die Globalisierung ist kein Produkt des 20. Jahrhunderts, sondern war bereits eine Lieblingsfigur der antiken Kosmologie, in der das Runde und das Gute zusammenfielen, man denke nur an den in Platos „Gastmahl“ erwähnten Mythos vom runden Doppelmenschen, der durch Hybris in zwei Teile geteilt wurde, oder im Großen an die sphärischen Himmelsschalen, die den Menschen davor bewahrten, aus dem Kosmos zu fallen. Auf diese erste, „kosmisch-uranische“ Globalisierung folgte im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit die vom Autor so genannte „terrestrische Globalisierung“ (Startdatum: 1492, Kolumbus’ folgenreiche zweite Exkursion), während der die Erde sukzessive ihre wahre Gestalt als größtenteils von Wasser bedeckter Planet zugeschrieben bekam.

 

Die zweite Phase der Globalisierung ist die der Entdeckungen, der Eroberungen, Kolonisierungen, Kartografierungen, zugleich auch der Kapitalisierungen: die wahre Botschaft der Neuzeit heißt nicht, dass die Erde sich um die Sonne dreht, sondern dass das Geld um den Globus läuft. In dieser Zeit entsteht das moderne Subjekt, das sich nicht länger als Betrachter des antiken Kosmos erfreut, sondern das raus in die Welt, und das heißt vor allem: über das unbekannte Meer, muss, will anders es seiner Selbstbegeisterung Ausdruck verleihen. Diese Phase ist bekanntlich eine einseitige: Portugiesen und Spanier stechen in See, bekommen aber selbst nicht Besuch in Gestalt transatlantischer „Globonauten“. Diese Epoche, die Sloterdijk von 1492 bis 1945 (oder 1976) datiert, nennt er „Geschichte“ oder „Weltgeschichte“. Eine Zeit einseitiger Aktionen europäischer Nationen, die in dem Moment zu Ende geht, als sich die Europäer nicht mehr ungestraft erste Beobachter nennen dürfen. Das unendliche Feld des zweiten Beobachters mit seinen unzählbaren „Standorten“ bringt die einseitige Konstruktion der terrestrischen Globalisierung zum Kollabieren. Man weiß nun, dass die Erde rund ist, wie sie aussieht, dass es keine weißen Flecken mehr gibt und dass man Verkehrswege baut, damit auch andere einen besuchen können.

 

Die dritte Phase der Globalisierung, die Sloterdijk mal ganz unschick bloß „elektronische“ nennt, kennt keine Einbahnstraßen mehr, ihr Name ist Vernetzung. Das ist sicherlich nicht neu. Interessant ist jedoch der Aspektwechsel weg von der Zeit (die noch Luhmann glaubte, stark machen zu müssen), hin zum konkreten Raum, der in der ubiquitären Flut von Simultananwesenheiten aus dem Blickwinkel zu geraten drohte. Wie schnell wir auch immer von A nach B gelangen können, es gibt so etwas wie eine unübertragbare Sesshaftigkeit (bei aller Nomadologie), die verhindert, dass andere den eigenen Platz (in jedem Sinn) einnehmen können. Sloterdijk betreibt also Globalisierungskritik mit Heidegger. Keiner lebt ohne seine je eigene Hütte. Interessant in diesem Zusammenhang, wie Sloterdijk die gegenwärtige Politik der US-Amerikaner als Wiedereintritt in die „Geschichte“ begreift, nämlich als einseitige Exportierung der amerikanischen Hütte. Dieser Rückfall aus dem multilateralen Posthistoire in einseitige Bellizismen neuzeitlich-europäischer Couleur mag an andere Rückständigkeiten erinnern, etwa an das zwanghafte Festhalten an codierten Allzuständigkeiten im abgehalfterten Nordkorea oder an die arabischen One-Way-Touristen als pubertär gestreckte Fundamentalterroristen.

 

Sloterdijk ist ein sehr anregendes, manchmal auch ein bisschen aufregendes (nervendes) Satyrstück zur Sphärentrilogie gelungen: bei aller Sloterdijkschen Vernetzung – man weiß, wo er steht.

 

Dieter Wenk (04.05)

 

Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt 2005

 

Sigmund-Freud-Preis 2005

 

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