17. März 2005

Aussichtslose Liebe im Wunderland

 

Das Misstrauen setzt ein, sobald man realisiert, dass andere natürlich auch Augen und Ohren im Kopf haben. Schon wird’s unbehaglich. Was ist, wenn die anderen Kleinkinder im Sandkasten genau zuhören, wie man als vernünftiger Erwachsener wichtig mit der Mutter spricht, und dann entsprechende Rückschlüsse zu unserer Person anstellen? Sie reichen uns dann mit ernstem Blick ein Stöckchen, nicken bedeutungsvoll und wenden sich ab.

 

In Andrew Sean Greers fabelhaftem Roman "Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli" ist es genauso. Ein Agent im Matrosenanzug hockt zwischen Förmchen und Eimerchen und lauscht der Stimme einer von ihm sein ganzes Leben lang geliebten Frau. Wundersamerweise wird diese nicht misstrauisch, sie erkennt den Jungen nicht, dabei war sie sogar mit ihm verheiratet. Wie sollte sie auch auf die Idee kommen, die Greer einfiel: Max Tivoli, der Held des Romans, wird 1871 in San Francisco als 70-jähriger Greis geboren, macht eine körperliche Verjüngung durch und dürfte dann, so die Rechnung der Großmutter, im Jahre 1941 als Säugling sterben.

 

Doch nicht nur die Menschen, die ihm begegnen, werden nicht misstrauisch, auch Max wird es nicht. Das heißt, er ist sich zwar seines schwer vorstellbaren Zustands, der umgedrehten Alterung, bewusst, aber Menschen jeden Alters geben sich eben Illusionen hin. Wie auch Max Tivoli: Er stellt trotz privilegiertem Beobachterstandpunkt keine Ausnahme vom allgemeinen Verblendungszusammenhang dar. Er versteht nicht, warum diese Alice ihn nicht liebt. Er ist nicht misstrauisch, sondern gibt seiner mysteriösen Krankheit die Schuld für seinen Misserfolg.

 

Mit den Privilegien ist das so eine Sache. Max hat sie zwar, aber Nutzen zieht er keinen draus. Privilegien sind gut, um aus einer Welt in die andere zu blicken, aber nie wird man von einer Welt gleich in die andere wandern können. Deshalb kann man auch beruhigt weiter auf Kinderspielplätzen die nächste Intrige anzetteln - die Kinder können einem sowieso nichts tun. Vor allem sind Privilegien aber zu einer Sache gut: zu erklären, warum man nicht schaffen kann, was man so gern will: Max Tivoli ist ja entweder zu alt oder zu jung. Aber immer kann er aufgrund seines Handicaps mitten unter den für ihn interessanten Menschen sein und wird von ihnen nicht weiter beachtet. Da hat man wirklich viel zu erzählen.

 

Hätte sich Andrew Sean Greer allerdings nicht diese ungemein trickreiche Krankheit zur Grundlage seines Buchs gewählt, wäre man als Leser doch sehr erstaunt, woher man all das wissen soll, ohne einen auktorialen Erzähler. Aber wie der amerikanische Titel "The Confessions of Max Tivoli" es besser als der deutsche auf den Punkt bringt, handelt es sich um die Lebensbeichte des Max Tivoli, heimlich in seinen letzten Lebensjahren aufgeschrieben, unter der Schulbank oder im Sandkasten, gerichtet an seine Geliebte und seinen Sohn, die nicht ahnen, wie nah er ihnen ist.

 

Der Roman ist in erster Linie die Geschichte einer aussichtslosen Liebe, nicht die einer bizarren Krankheit. Und die Geschichte einer traumwandelnden Lolita. Die Verstörung, dass ein Greis ein Mädchen liebt und sich zu tarnen weiß als väterlicher Freund, ist bekannt - die Vorstellung, dass dieser Greis genauso alt ist wie das Mädchen und jünger werden wird, ist hoffnungslos. Greer hat zwei Kollegen seiner Zunft zu einem Fest geladen: Lewis Carroll und Vladimir Nabokov. Carroll liebte das Mädchen, das das lebende Vorbild seiner Alice war. Carroll machte aus den "Alice"-Geschichten die literaturgeschichtlich prachtvollste Übersprungshandlung. Das Mädchen aus dem Wunderland, das tändelnd logische Konflikte überfliegt in einem ewigen Sommer. Bei Nabokov wiederum ist es der Mann, der seine Gattin ermordet, um ihrem Kind, seiner Lolita, eine dem Scheitern geweihte Liebe anzutragen: immer ängstlich, entdeckt zu werden, immer entsetzter über ihr Altern. Alice heißt auch die Geliebte von Max Tivoli und auch sie altert vorbei an dem Mann, der Angst hat, entdeckt zu werden, als unheilbar Liebes- und verkehrt Alterskranker.

 

Für alle, denen das Fantastische dieser Geschichte doch zu konstruiert erscheint und denen das Romantische eher abgeht: Greers großartig genauen Beschreibungen der biederen Gesellschaft San Franciscos zur Jahrhundertwende und der technischen Erneuerungen dieser Zeit lassen sich als eigenes Buch im Buch lesen. Zudem überzeugt Greer mit einem brillanten Stil und streckenweise bitterer Ironie, die auch die rührseligsten Bekenntnisse des liebestollen Max Tivoli erträglich macht.

 

Andrew Sean Greer: "Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli". Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. S. Fischer 2005, 348 Seiten, 19,90 €

 

taz Nr. 7617 vom 17.3.2005, Seite IX, 159 Zeilen (Kommentar), GUSTAV MECHLENBURG

 

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