15. März 2005

Schein und Seyn

 

Es ist die schönste Regel, dass der normal Sterbliche den Philosophen nicht versteht. Dabei hatte der Philosoph seinerzeit bloß selber nicht verstanden. Es reichte ihm nicht, was ihm angeboten wurde. Zu schmale Kost. Zu dürftige Sprache. Je nach Überbietungswahn wird dann zurückgeschrieben. Hallo Welt, du hast noch was vergessen. Ich hab das jetzt mal aufgeschrieben. Ein besonders ergreifendes Beispiel des Kontaktversuchs mit den Tiefen des Seins stellt Martin Heideggers metaphorischer Etymologismus dar. Der einfache und elegante linguistic turn ist hier antizipiert vom linguistischen Labyrinth. Am Ende des verschlungenen Weges träte einem das Sein in Gestalt des Minotaurus entgegen, dessen fürchterliche Gestalt man bislang mit harmlosen Stellvertretern verstellte.

 

Die Reise, auf die der Autor dieses schmalen Buches den Leser mitnimmt, ist jedoch eine andere. Hans Dieter Zimmermann erzählt den Werdegang zweier ungleicher Brüder, Martin und Fritz Heidegger. Martin, der spätere berühmte Philosoph, und Fritz, der jüngere der beiden, der den Geburtsort Meßkirch eigentlich nie verlassen hat und als Bankangestellter (als sogenannter „Scheinwerfer“) und Fastnachtsredner sein Dasein fristete. Die Sympathien des Autors gehören unbedingt Fritz Heidegger. Auch er war das, was man einen begabten Schüler nennt, aber zwei Dinge verhinderten eine größere Karriere. Zum einen konnte er nicht studieren, da die Familie kein Geld hatte, zum anderen hatte Fritz Sprachhemmungen, er stotterte. Interessanterweise gelang es Fritz, ganz normal zu artikulieren, wenn er auf der Narrenkanzel stand, um den Meßkirchnern und angereisten Fanclubs die Leviten zu lesen. Als Büttenredner war er in seinem Element und die Sprache und das Sprechen nicht länger sein Feind. Die zahlreichen Auftritte in dieser Funktion müssen ein Ereignis ersten Rangs in der Region gewesen sein. Zimmermann scheut nicht, in diesem Zusammenhang den Namen Abraham a Sancta Clara fallen zu lassen. Fritz Heidegger war also das, was man ein Original zu nennen pflegt. Fritz war aber nicht nur ein Redner in der Sache des Herrn, sondern auch ein Schreiber im Auftrag des Bruders.

 

Hier stimmt es einmal nicht, dass die Erscheinungsweise des Daktylografen eine Frau ist. Frau „Martin“ Heidegger tippte nicht, wie Hannah Arendt einmal boshaft feststellte. Dafür wuchs Fritz selbst zum Autor heran, wenn auch wohl vor allem zur Selbstverständigung und nicht zur Fremdunterweisung wie bei seinem Bruder. Immerhin glaubt Zimmermann in machen Textbeispielen Fritz’ einen „Kommentar zur Demokratie im Medien-Zeitalter“ zu lesen. Das mag so sein, dem Autor dieser Zeilen kommen diese Zitate aber doch eher vor wie eine kuriose Mischung aus Fastnacht und Martin-Heideggerscher-Philosophie, was den Unterhaltungswert dieser Texte also in keiner Weise schmälert. Diese Texte sollten also unbedingt veröffentlicht werden, mit Sicherheit dürfte davon auch ein Licht auf den großen Bruder fallen, der das zwar gar nicht mehr nötig hat, aber weiß man, welche unvorhergesehenen Effekte sich daraus ergeben könnten?

 

Im Nachwort schreibt Zimmermann, seine Sympathie gehöre Fritz, seine Verehrung Martin. Ersteres ist klar, die Verehrung merkt man jedoch denjenigen Kapiteln des Buchs, die sich mit Martin beschäftigen, nicht oder kaum an. Zimmermann distanziert sich eher, fast gelingt es ihm, sich als naiven Leser Martin Heideggers zu präsentieren, der nicht ganz versteht, was die philosophische Welt an diesem Mann hat. Soll man es subversiv nennen, wenn diese artige Fraglichkeit sich auch auf den Leser überträgt? Martin Heidegger, vielleicht doch mehr Mystiker als Philosoph? Mehr Metaphoriker als Metaphysiker? Und vielleicht schließlich auch mehr elaborierte Fastnacht als ariadnisiertes Seinsdenken?

Für Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen sollte man unbedingt dieses gelungene Buch in die Hand nehmen. Denn Brüder erhellen sich nur gegenseitig.

 

Dieter Wenk (03.05)

 

Hans Dieter Zimmermann, Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht, München 2005 (Beck)

 

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