7. März 2005

Unzuverlässiger Erzähler

 

Ein Mord, ein Selbstmord. Davon handelt dieses Buch. Doch geht es weniger um diese Ereignisse selbst als vielmehr darum, wie sie wahrgenommen werden, und um die Frage, ob sie überhaupt stattgefunden haben. Jemand beobachtet einen Mord. Es stellt sich heraus, dass dieser Jemand ein Alkoholiker ist und schon aus diesem Grund nicht ganz zuverlässig; abgesehen davon liebt er es, Geschichten zu erfinden, um andere aufs Glatteis zu führen.

 

Am Anfang war ein Mord. Zumindest scheint es so im Rückblick und so rekonstruiert es jedenfalls Olaf Rademacher, der Erzähler, der vor ein paar Monaten mit einer Gruppe von Kunststudenten für eine Woche nach Istanbul gefahren ist. Dort hat er im Hotel ein deutsches Pärchen kennen gelernt. Livia, eine Fotografin, und Albin, den Alkoholiker. Albin will einen Mord an einem amerikanischen Edelsteinhändler beobachtet haben und macht seine Umgebung mit Mutmaßungen darüber verrückt, dass russische Mafiosi ihn getötet hätten. Er wusste sogar, wie das Opfer hieß, weil er neulich nachts mit ihm noch zusammen flaschenweise Whisky getrunken hatte. Heute morgen habe er, so Albin, indes von der Dachterrasse aus gesehen, dass in dem benachbarten Hotel dieser Jonathan Miller, von einem tödlichen Schuss getroffen, vornüber auf den Glastisch gefallen sei und mit dem Kopf die Platte zertrümmert habe. Er sei gleich in das Hotel gerannt und habe an der Rezeption seine Beobachtung kundgetan. Aber der Portier hat ihn mit der Begründung abgewimmelt, es gebe im Hotel niemanden dieses Namens und ein Mord habe auch nicht stattgefunden.

 

Albin kommt mit den Einzelheiten durcheinander. An anderer Stelle ist nicht davon die Rede, dass die Glasplatte zu Bruch gegangen ist; im Gegenteil, Albin betont, dass sie unbeschädigt geblieben sei. Doch ist dies kein Widerspruch, der ihn der Lüge überführen würde. Sein Alkoholikerhirn ist schon zu sehr angegriffen, als dass es sich mit solchen Nebensächlichkeiten befassen könnte.

 

Albin geht nun auf eigene Faust der Sache nach. Währenddessen freundet sich Livia mit Jan an, einem Studenten aus der Gruppe. Nach fünf Jahren mit Albin ergreift sie die erste sich bietende Gelegenheit, um das zu tun, wozu sie allein nicht die Kraft hat: Albin zu verlassen.

 

So weit, so gut. Bis man diese Sachlage als Leser begreifen kann, muss man einige Seiten lesen. Denn Olaf erzählt nicht nur aus seiner eigenen Sicht. (Außer einem längeren Gespräch mit Albin hat er kaum Anteil an der eigentlichen Handlung.) Er baut seinen Bericht hauptsächlich auf Informationen, die er von Livia hat, und gibt auch ihre Sicht der Dinge wieder. Aber damit nicht genug, er erzählt überdies auch aus Albins Sicht. Das hat zur Folge, dass seine Erzählung anfangs hin und her springt. Zum Zeitpunkt des Mords befinden sich die Studenten noch auf dem Frankfurter Flughafen, Livia sitzt beim Frühstück und Albin ist auf der Dachterrasse des Hotels.

 

Er ist aber nicht nur auf der Dachterrasse, wie Livia annimmt – und mit ihr Olaf. Denn es gibt noch eine Informationsquelle: Jedes zweite Kapitel ist ein innerer Monolog Albins. Aus einem dieser Monologe (die überdies in chronologisch umgekehrter Reihenfolge angeordnet sind) können wir erfahren, dass er offenbar heimlich an jenem fraglichen Morgen, während Livia noch frühstückt, ins Zimmer schleicht, um sich an der Minibar gütlich zu tun – und das zu einem Zeitpunkt, als der Mord gemäß Olafs Bericht schon begangen worden sein müsste, wovon aber in Albins innerem Monolog noch nicht die Rede gewesen ist.

 

Man könnte also versucht sein, den Mord doch für ein Hirngespinst zu halten. Die inneren Monologe Albins berichten nicht im Rückblick, sondern zum Zeitpunkt seiner Wahrnehmung. Doch muss nicht auch in diesem Fall letztlich gelten, was in den anderen Fällen galt, nämlich dass Albins Äußerungen alles andere sind als über jeden Zweifel erhaben?

 

Ein großer Reiz dieses Romans geht gerade von dieser Konstruktion aus. Das ist nicht jedermanns Sache, aber den Skeptikern sei gesagt, dass der Roman auch in seinen Fragmenten, die man als Leser nach und nach zusammensetzen muss, überzeugt. Sprich, man muss sich keineswegs durch die einzelnen Teile quälen, um den Reiz des großen Ganzen zu erfassen, denn diese Fragmente sind es ja, aus denen sich das Lebensbild Albins fügt, dieses verlorenen, kranken Helden. Alle diese Episoden machen das Individuum aus, das Albin ist. Manch einer wird sagen, dass die Konstruktion des Romans die Figur Albin erschlägt. Aber das ist wohl das Schicksal aller stark, im Sinne von gut und im Sinne von auffällig, konstruierten Romane.

 

Christoph Peters’ Roman erscheint in diesem Jahr als Taschenbuch.

 

Matthias Aumüller

 

Christoph Peters: Das Tuch aus Nacht, Goldmann 2003/ Tb. 2005

 

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