7. März 2005

Bilder unfroher Masturbation

 

Georg Büchner, Woyzeck. Regie Laurent Chétouane, Premiere: Donerstag, 3.3. 2005, Schauspielhaus Hamburg

 

„Sieh nicht hinter dich“, sagt Devid Striesow als Woyzeck und blickt in den öden Bühnenraum. Hinter ihm sitzt das Pemierenpublikum des Hamburger Schaupielhauses, und wartet.

Selten ist ein Stück so hermetisch abgeschlossen und absichtlich, wichtigtuerisch verlangsamt worden, wie Büchners apokalytisches Märchen, unter der Regie von Laurent Chétouane.

Der Text wird buchstabiert, nicht gesprochen. Jede Szene beruht unmittelbar auf sich selbst. Die Handlung ist nur eine sekundäre Funktion der Szene, und am Ende der Sätze hat man vergessen, wie die Passage anfing. Spöttisches Gelächter erhebt sich im Zuschauerraum, als der Hauptmann wehleidig dazu ermahnt, nicht so durch die Welt zu hetzen.

 

Mit mahlendem Kiefer und Quadratschädel arbeitet Woyzeck an einer Entgrenzung seines Verstandes. Es wechseln dunkle Grübeleien mit hellen Visionen. Tendenziell ist jeder Melancholiker auch ein Häretiker und Dissident. Seine Gedanken schweifen in Zonen des Tabus. In Woyzeck beobachtet man einen gefährdeten Bruder derjenigen, die dem Höllensturz in die Starre der Depression oder der Ekstase irrer Erleuchtung nicht mehr entkommen.

 

Es ist Hirnwut, sagt Marie, eine Fixe Idee, sagt der Doktor. Woyzeck läuft wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt, sagt der Hauptmann.

 

Von Laufen kann keine Rede sein. Die Schauspieler dürfen sich nicht bewegen. Es bleibt den Zuschauern nichts anderes übrig, als sich auf die Beobachtung der wenigen Requisiten zu konzentrieren, Stöckchen und Rasierschaum.

 

Sinnloses Schnitzen und nervöses Schäumen, Bilder unfroher Masturbation. Die Vorstellung von Ordnung, bei der alles Existierende seinen Zweck in einem Anderen hat, ist zerstört. Niemand wird an diesem Abend rasiert. Woyzeck ist unfähig, seine Welt so zu standardisieren, dass sie kompakt und brauchbar wird. Aber er ist ständig auf der Suche nach einer verborgenen Wahrheit, beim Stöckeschnitzen, bei den seltsamen Ringen in denen die Pilze wachsen, bei Marie, die ihn mit ihrer kargen Schönheit in wahnsinnige Eifersucht treibt.

 

Es drängt ihn, die Zeichen der Natur zu lesen. Davon will keiner etwas wissen, die Beteiligten sind stumpfsinnig. Helfen können und wollen sie einander nicht.

 

Das Woyzeck Fragment aus den Jahren 1836/37 ist sehr wohl in der Lage, eine Reihe einander kritisch ablösender Sinngebungen anzuziehen. Ausgespielt wird das an diesem Abend nicht. Die Zurechnungsfähigkeit von Mördern, die einschlägige Diskussion um moralische Freiheit oder partiellen Schwachsinn, sämtliche Implikationen zu Ausbeutung und entfremdeter Arbeit versacken hinter bloßer Wortwörtlichkeit. Zu überzeugt scheint Chétouane von der Sprachlosigkeit Georg Büchners zu sein, dem ein Stück wie Woyzeck angeblich nur passierte. Und dessen Sätze nun erfürchtig zerdehnt werden.

 

Die Schauspieler leisten unter solcher Aleitung Schwerstarbeit. Am Ende bekommt das Ensemble Applaus und die verantwortlichen Schlaumeier, die ein höchst brauchbares Bühnenstück zu einem intellektualistisch bedeutungsschwangeren Brocken gestalteten, unwilliges Murren.

 

Nora Sdun