21. Februar 2005

Stabile Illusionen

 

Wenn man den Showdown erwartet, bricht der Erzählstrang ab. So wie in einem Labyrinth eben auch plötzlich eine Wand den weiteren Weg verhindert. So wie in dem berühmten „Don Quichotte“, mitten in der dramatischen Schilderung eines Zweikampfes, die Aufzeichnungen urplötzlich abbrechen. Auch hier wird so recht nichts aufgeklärt. Prachtvoll provoziert Gerhard Roth sowohl optische Verwirrung (es gibt viele Bildbesprechungen in dem Roman) wie auch ein narratives In-die-Irre-Lesen. Es gibt zahllose Verweise auf andere Literatur, und es gibt ein halbes dutzend Erzählperspektiven im Roman „Das Labyrinth“. Immer hat alles mit allem zu tun und ist voneinander nicht abziehbar. Die Grenzen von Kunst und Poesie sind aufgehoben, wenn man sich dem Wahnsinn widmet. Die unsinnigen Simpsons gehören dazu wie die Geschichte der Literatur.

 

„Asmodea“ heißt ein Bild Goyas. Er malte es nach langer umnächtigter Krankheit. Asmodi ist ein Dämon, er schaut aus der Höhe auf das Treiben der Menschen und sieht voraus, wohin es führen wird. Auf dem Bild sieht man ein fliegendes Paar. Einer schaut ungewiss. Das Gesicht ist nicht zu sehen, die Vergangenheit ist verhüllt, interpretiert Roth. Einer starrt schreckverzerrten Antlitzes. Er deutet gestikulierend in die Ferne, in die Zukunft, auf eine uneinnehmbare Festung. Vom unteren Bildrand wird dieses Flugobjekt anvisiert mit durchgeladenden Gewehren. Asmodi kann wohl fliegen, aber nichts ändern. Dies ist die Perspektive des Buchs von Gerhard Roth.

 

Man darf Menschen nicht daran hindern, den Verstand zu verlieren, sagt Tschechow in „Krankensaal Nr. 6.“, auch diesen Hinweis findet man bei Roth. Labyrinthe aus Anspielungen auf Verwirrung, Realitätsmüdigkeit und Wissenschaft werden geschildert. Don Quichotte hilft. Die grotesken Halluzinationen eines Sonnenstich-kranken Ritterhirns machen die Welt noch nicht irr, erst zusammen mit dem hausbackenen Realitätssinn eines Sancho Pansa entwickelt sich beim Leser ein Misstrauen gegenüber der Konvention von Wirklichkeit. Konventionen sind auch labyrinthisch, und der Sturz aus ihnen verbürgt keine Gewissheit, auch nicht für Philipp Stourzh, einen Jungen Mann, der einen großen Zusammenhang aufzudecken sucht, man kann ihn nicht hindern. Fühlen ist Not, heißt es an einer Stelle, das heißt, das Leben geht klar von selbst, aber die Intensitäten lassen sich ausreizen. Man flüchtet sich aus dem Gefühl, lebendig in der Realität begraben zu sein. Demzufolge haben alle Protagonisten des Romans stabile Illusionen. Sie können gar nicht desillusioniert werden, so wie man aus einem Traum erwacht, denn sie schlafen nicht, sondern werkeln, wie Künstler, beständig an ihren Wirklichkeiten. So sind es mehrere Labyrinthe, die man gegeneinander verdrehen und an bestimmten Stellen von einem ins andere steigen kann. So ist das Labyrinth der Irrsinnigen wie das der Künstler, dem der Ärzte an der Stelle ähnlich, wo es um Gewissheiten geht, denn die Diagnose steht fest, man kann nur nicht mit dem Patienten, der jeweils zurecht gelegten Welt sprechen, um es zu prüfen. Man kann Bilder und Bücher und Menschen verstehen, aber nicht erklären. Und Kunst versteht es bekanntlich, das alles zu thematisieren: Könige, Geisteskrankheiten, Realitäten und sich selbst.

 

Es gibt Brandstifter in Hirnen und Gebäuden. Es gibt Verbindungstunnel zwischen Menschen, die ihre Verwandtschaft nicht ahnen. Aber als Leser steigt man hin und her und läuft Gefahr sich zu verirren.

 

Der Schriftsteller geistert in der Kulturgeschichte herum und macht sich ständig mehr Notizen. Er hat dieses Buch geschrieben, und die Logopädin der Anstalt Gugging beobachtet. Sie, von Berufswegen eigentlich zuständig, mit dem Schweigen zu brechen, ist die Einzige, die mit allen Männern im Labyrinth Körperkontakt hat. Auch sie ist nicht gewisser als die stumm und verbiestert Zeichnungen- und Berichte anfertigenden Männer, die sich immer auf Berge von Akten stützen, wenn sie sich äußern zu: der österreichischen Kaiserfamilie, der brennenden Hofburg, dem ebenso labyrinthischen Palast Philipps II., mit einer Magisterarbeit zu Velasquez, der später an diesem Hof malte. Zwergen, Narren, Herrscherporträts. Über den einäugigen Psychiater, der eine Wohnung in der Hofburg hat. Über die Urgroßmutter von Stourzh, Kindermädchen der Kaiserfamilie, „Las Meninas“ von Velasques, mit dem Kindermädchen der Infantin. „Das Selbstbildnis im Konvexspiegel“ von Parmigianino, das Porträt eines Mannes mit einer Kugel im Kopf, eine einäugige Interpretation eines unendlich langsamen Sturzes. Philipp Stourzh als Hilfspfleger der Irrenanstalt Gugging, der Schriftsteller als Besucher im Haus der Künstler. Don Quichotte. Das Erdbeben von Lissabon, Goya, Toledo, ein Jurist als Verbrecher, ein Irrsinniger als Imker ...

Man kann nicht klagen, es ist ein fabelhaftes Labyrinth.

 

Nora Sdun

 

Gerhard Roth: Das Labyrinth, Roman, 455 Seiten, S. Fischer 2005

 

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