9. Februar 2005

Ein 275-Jähriger zu Gast

 

… sehe ich natürlich von heute aus zurückblickend die harsche Gegenüberstellung von Raumkunst und Zeitkunst, wie ich sie im „Laokoon“ getroffen habe, als zeitbedingt an, was aber bitte schön nicht technikblind besagt, denn wer meinen „Nathan“ zu lesen weiß, ahnt im Paragone der drei Haupt- und Staatsreligionen die Endstation Sehnsucht der Unendlichkeit, wo sich bekanntlich mindestens zwei Parallelen schneiden, also auch das von mir mitinitiierte Projekt der Moderne aus seinem Projektcharakter herauskommt, um sich auf selbstfinanzierte Füße zu stellen, also im Grunde schon damals von mir das Raum-Zeit-Kontinuum, für den, der zu lesen verstand, so angelegt war, dass der alte Minkowski das nur mehr in sein Gefilde transponieren musste, und, wenn nicht in meiner „Emilia“, kommt das Prinzip der Überlagerung von verschiedenen Zeitebenen zum Tragen, ich meine das Herbeiwünschen des Messerstichs in Emilias Brust, ausgeführt von der Tugendhaftigkeit des erinnerungsseligen Vaters, der durch die traditionsgetränkte Tat das Eindringen jenes anderen Objekts trefflich zu verhindern verstand, die Läufigkeit der Tochter also umging im Vorlaufen in ihren Tod. Gleichwohl bleibt mein wichtigster Text mein freilich Fragment gebliebener „Doktor Faustus“, in welchem ich versuchte, das teuflische Prinzip an das Moment der Zeit, genauer: der Geschwindigkeit zu knüpfen, womit ich sagen wollte, dass die meisten unserer Handlungen nichts weiter als Verstotterungen von bösen Initialaugenblicken sind. Unsere Sätze sind die Bügelbretter unserer verlotterten Gesinnung, und nichts anderes wollte, glaube ich jedenfalls, später ein österreichischer Philosoph sagen, der auf das Schweigen gesetzt hat, weil es anders zu gefährlich geworden wäre (wie sagte er gleich?: „… aber sobald wir uns wirklich etwas zu sagen haben, müssen wir schweigen…“). Ich möchte behaupten, dass die gesamte so genannte analytische Philosophie ein einziges Rückzugsgefecht vor diesem punctum initialis ist. Lauter feige Satzfluchten. Allerdings hier ohne den Unendlichkeitsfaktor, der mir ja noch sehr wichtig war, ich würde das heute natürlich nicht mehr zentralperspektivisch beglaubigen, und ich meine mich zu erinnern, dass ich schon meinerzeit den Leibniz’schen Potenzialis der möglichen Welten doch recht elegant fand, diesen permanenten Essayismus, das Rumschrauben an den Gelenken, das Versetzen des Spiegels, hallo Herr Nachbar, wir kennen uns ja noch gar nicht, dieser großartige Überraschungsfaktor in der Monadenwelt, die uns daran erinnert, weniger mit diesen blöden Medien zu arbeiten als selber welche zu sein. Also hier dürfte noch einiges ausstehen an Möglichkeiten der Selbsterkenntnis, die Bühne hat es leider nicht geschafft, das Publikum mit diesem Virus anzustecken und ich muss sagen, dass das heutige Theater leider den Punkt der größtmöglichen Abstoßung erreicht hat. Vereinnahmung hieße das Ziel, aber was soll’s, wir sind doch nichts anderes als die kleinen Mitläufer der übergroßen Dialektik, von der wir nichts anderes wissen, als dass wir glauben, Geschichtsbücher in ihrem Namen schreiben zu dürfen. Was aber meinen Einakter „Die Juden“ angeht, so…

 

Dieter Wenk (2.05)

 

Mit Lessing im Gespräch, herausgegeben von Heinz-Ludwig Arnold, Göttingen 2004 (Wallstein), mit Beiträgen von Hugo Dittberner, Hans Eichborn, Marcel Beyer, Daniel Kehlmann, Gisela von Wysocki, Yoko Tawada, Robert Schindel, Patricia Görg, Norbert Hummelt, Marica Bodrozic und Farhad Showghi

 

amazon