9. Januar 2005

Testdouble

 

Briefmarkensammler haben nach wie vor keinen guten Ruf. Alle wissen, dass das mehr mit der Briefmarke als mit der Tätigkeit des Sammelns zu tun hat. Eine Briefmarke ist zum Beispiel keine Frau. Interessanter sind dann schon die realitätsgesättigteren Fotos, aber gerade hier braucht es mittlerweile einen ziemlich großen Aufwand oder ein besonderes Raffinement, unsere verwöhnten, inszenierungserprobten inscapes noch umschmeicheln zu können. So richtig mochte das auch dem guten Mann (levan) nicht gelingen, der letzten Dienstag im Club 88 hier in Hamburg eine kleine Auswahl seiner fotografischen objets trouvés zeigte. Fotos, die er wo auch immer fand und auflas. Seit 1980. Zusammenhänge ergäben sich dabei also eher zufällig. Zum Beispiel der gleiche Fundort, nur zehn Jahre später. Oder ein ähnliches Motiv an verschiedenen Stellen. Ah ja. Das Problem bei so was ist, dass man als Betrachter nicht richtig überrascht werden kann. Weil man eh schon auf alles eingestellt ist. Der Produzent bleibt meist anonym, also gibt es keine Erwartungsadresse. Also gibt es keine Stelle, die dich wirklich meint. Das heißt aber auch, dass dieser ganze Abfall kein Trash ist, denn auch der will organisiert sein, und vor allem hat er eine Zuschreibung. Das ganze wirkte also ein bisschen krank, von Anfang an chronisch. Auch von Rainald Goetz weiß man, dass er ein leidenschaftlicher Sammler ist. Niemand hat einen so großen Worttrichter an seinem Ohr hängen wie er. Kaum einer schießt so viele Foto. Wir alle sind schon gespannt auf die erste Sammlung. In seiner Jahresmitschrift von 1989 hatte er sich als Autor komplett zurückgenommen. Sammeln, zusammentragen, notieren, transkribieren und zack, dem Leser brutal an den Kopf geschmissen, der aber immerhin ja noch gelassen das Buch zuklappen konnte, um später vielleicht damit ein wenig Daumenkino zu spielen. Krass dieser Materialitätswahn. Aber trotzdem, erst nach so einer Attacke durch Goetz wird einem klar, dass die Wirklichkeit ja selbst schon beinahe an sich ersäuft. Und das spürt dieser Typ halt wie kaum ein anderer. Und deshalb darf er auch die beiden Kapitel dieses Büchleins "Krank und Kaputt" nennen. Trotz der ähnlich klingenden Untertitel sind die beiden Teile sehr unterschiedlich. "Krank" stellt auf 100 Seiten "Gedichte" vor, vom 1.10.1999 bis zum Jahrtausendwechsel, jeden Tag eins. Leute, die sich jetzt fragen, was Goetz mit der Form des Gedichts zu tun hat, ob er jetzt vielleicht sogar anfängt zu reimen (bei so einem schönen Buchtitel), können beruhigt werden, diese Texte sind natürlich GoetzGedichte, die in ihrer Abstraktheit sehr stark an seine Theaterstücke erinnern. Und die wahrscheinlich genau so wie diese einen Interpreten brauchen, ich meine erst mal überhaupt eine Stimme, damit sie ankommen. Denn "Krank" ist Schrott. Zunächst. Und wahrscheinlich auch sonst. Mit Stimme. Aber vielleicht liegt das Nichtankommen dieser rissigen Wortgebilde einfach daran, dass ich mich selber zurzeit extrem"unkrank" fühle und diese Depression des Signifikanten abstoßend und sehr unerotisch finde. Bleibt für "Unkranke" also "Kaputt", und da kommt doch wieder Heimat auf, denn diese Interviews, face-to-face oder per E-Mail oder Fax, geben zwar zu verstehen, dass da draußen schon irgendwas nicht so richtig läuft, aber Goetz dadurch sich eben nicht kaputt machen lässt, auch wenn er darunter leidet, zum Beispiel an einem als bedenklich oder bedrohlich empfundenen Verlust "sozialer Reflexe". Ach, Rainald, alte Intellektuellenkrankheit. Deshalb machst du auf einer anderen Ebene die Türen ja so dermaßen sperrangelweit auf. Zum erst mal frei schwebenden Vortesten. Sein eigener Vorkoster sein können. Sein Testdouble. Wunderbar. Gegen das allgemeine mediale Wiederkäuertum, die Normen der großen Brüder und vor allem der übergroßen Schwestern, also der Welt der Frauenzeitschriften: "Fast immer ist es nur der von daher kommende, deprimierend standardisierte Debiltext, den die Leute aufsagen, wenn sie über ihr Innenleben reden. Nicht schön. Scheußlich." Ist das auch der Grund, warum man bei Goetz vergeblich nach Frauengeschichten sucht, ich meine jetzt nicht im Privatleben? Zu hohe Messlatte? Zu großer Erwartungsdruck? Dass das alles dann vielleicht wahnsinnig kitschig wirkt? Oder konstruiert? Oder vielleicht auch ganz schön normal? Jedenfalls möchte ich von ihm wie auch immer irgendwann mal ein Jahrzehnt der schönen Frauen präsentiert bekommen, nicht nur als Rattenfängertitel, sondern mit richtigen fiktiven Frauen. Denn ich war schon immer für sich selbst ergebende Augenscheinlichkeiten.

 

Dieter Wenk (19.5.01)

 

Rainald Goetz, Jahrzehnt der schönen Frauen, Berlin 2001 (Merve)

 

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