9. Januar 2005

August Sander meets Tim & Struppi

 

Es ist eine wilde Stadt zu einer wilden Zeit: 1928, zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, kommt die junge Marthe nach Berlin. Arbeiter und Faschisten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, hinter verfallenen Fassaden hausen Kriegsveteranen, Kunststudenten streiten über Expressionismus und Neue Sachlichkeit, orthodoxe jüdische Familien werden von Nazis drangsaliert, ein Vater lässt seine Frau mit ihren Kindern sitzen, weil sie „eine Rote“ ist – inmitten dieses Chaos lernt Marthe den deutlich älteren Journalisten Kurt Severing kennen, der für die „Weltbühne“ schreibt.

 

Der Amerikaner Jason Lutes, Jahrgang 1967, hat mit „Berlin – Steinerne Stadt“ einen historischen Comic geschrieben und gezeichnet, der vor Handlungssträngen und zeitgeschichtlichen Ereignissen aus allen Nähten zu platzen scheint. Auf den ersten Blick bestechend wirken die Zeichnungen, die – obwohl schwarzweiß – mit ihrem klaren an „Tim & Struppi“-Erfinder Hergé geschulten Stil schnell so etwas wie grafisches Lokalkolorit entstehen lassen: Durch die Stadt, die bis in ihre kleinsten Winkel akkurat wie auf zeitgenössischen Arbeiterfotografien abgebildet wird, bewegt sich ein Personal, das manchmal direkt dem Atlas August Sanders entsprungen sein könnte. In punkto Anschaulichkeit erweist sich das Medium so dem „klassischen“ historischen Roman weit überlegen – wo dort seitenlang beschrieben wird, gibt jedes Panel eine umfassendere Vorstellung von damals, als es Wörter jemals könnten.

 

Weniger klar kommt die Story des Comics daher. Die vielen unterschiedlichen Handlungsstränge sind da noch das geringste Problem: Schließlich bildet der vorliegende Band ja lediglich den ersten einer Trilogie. Allerdings ist auf jeder Seite der Druck zu spüren, Zeitgeschehen paradigmatisch darzustellen und so viel Wissen wie möglich zu vermitteln – angefangen bei den Zeitungsjungen der „AIZ“, die schnell mal so die Geschichte der Arbeiterbewegung erklären, bis zum Kunstprofessor, der einen Exkurs über die Zentralperspektive hält. Extrem didaktisch wirkt das. Möchte man Vergleiche anstellen mit anderen historischen Comics wie „Maus“ oder „Hiroshima“, dann findet sich dort eine mehr oder weniger starke Irritation der Perspektive, im ersten Fall durch die Vermischung von Geschichte und Fabel, im anderen Fall durch die Perspektive eines kleinen Jungen. „Berlin“ erscheint dagegen oft wie eine Collage aus bereits bekanntem Material, visuell wie narrativ, ohne jedoch die eigene Zitathaftigkeit oder Medialität je auszustellen: Von den Bildern der Boheme-Liebschaft des alternden Journalisten und der jungen Kunststudentin bis zu den – natürlich – schlüpfrigen Gedanken des Fahrkartenkontrolleurs.

 

Trotz dieser inhaltlichen Schwächen: Der erste Band von „Berlin“ hat eine schon fast filmische Dramaturgie, die sich bis zum Schluss zu einem temporeichen Höhepunkt steigert – und die Geschichtsstunde unterhaltsamer und spannender macht, als ein Guido Knopp es je sein könnte.

 

Thomas von Steinaecker

 

Jason Lutes: Berlin – Steinerne Stadt, Carlsen 2003

 

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