Sympathy for the Mittelfinger
Der Prager Jaroslav Rudis ist einer von denen, die aus dem Osten kommend den Westen neu für sich entdecken. Er ist nicht der Einzige, der den Westen „neu“ entdeckt. Das ist auch völlig okay, gäbe es nicht das Zusammenspiel des deutschen Feuilletons mit den Verlagen, deren Trendscouts mit Tunnelblick durch die Welt tapern und den Wald vor lauter Büchern nicht sehen.
Und so kommt es, dass Wladimir Kaminer den neuen Prototypen des Schriftstellers in den Talk-Ecken des deutschsprachigen Raums geben darf und als George Clooney aus Moskau zur ewigen Russendisko lädt und die Party weitergehen lässt, die an sich schon lange zu Ende war. Hey Jungs, aufwachen!
Der ganze Kack vom Sauf- und Raufbrüdertum aus dem Osten zirkuliert nun schon seit einigen Jahren und lässt den Eindruck erwachsen, als sei der „schreckliche Iwan“ der wahre Urgrund des Menschseins, zu dem wir jetzt wieder vorstoßen dürfen. Als werde da – mit einiger Verspätung – etwas freigelegt, Affekthandlungsbedarf vielleicht. Alte Hollywood-Klischees à la „Eins, Zwei, Drei“ entsteigen dem kollektiven Bewusstsein in ein „neues“ Leben. Als gäbe es die Erkenntnis, dass hinter dem bleiernen Vorhang auch nur Blei gegossen wird. Wie gnadenlos scheiße soll’s denn noch werden?! Die Überlebensstrategie des Ostblocks, deren Bevölkerung gelernt hat, sich mit dem Provisorischen einzurichten, trifft auf den wirtschaftlichen Abschwung im Westen und gibt ihm den Bruderkuss. Das muss natürlich gefeiert werden. Alle weiteren Unterschiede in Sachen Wahrnehmung, Geschichte und Kultur werden einfach mit Wodka heruntergespült, die Befindlichkeiten hinter dem Suff und die ganze Verzweiflung mit einer kurzen Geste des Übergebens abgetötet. Das ist Säufer-Romantik und Verdrängungsgebahren.
Der 1971 in Nordböhmen geborene Jaroslav Rudis, der heute als Kulturredakteur arbeitet, macht aus Berlin einen Tunnel, in dem U-Bahnen ihre Kreise ziehen, Selbstmörder platt gefahren werden, Wagenführer die Krise kriegen und unter Geständnisbedarf leiden. Da kommt Peter Bém mit seinem grotesken Punkverständnis und seiner Vorliebe für Schwärze gerade richtig und flüchtet vor seinem alten Leben in ein neues, das noch nicht da ist. Ein kleiner Kosmos wird ausgebreitet.
Musiker, die aus Bob Dylan Heinz Erhardt und aus Punk einen Foxtrott machen, bevölkern die U-Bahnen („Ich fahre U-Bahn und spiele Gitarre, oder besser gesagt: dylaniere“). Da freut sich die FAZ und der Kritiker Andreas Rosenfelder schreibt eine blumige Kritik, die das Buch a) nicht einlöst, b) bei weitem übertrifft c) nicht trifft und d) eigentlich ein ganz anderes meint und e) meinen müsste.
Jeder, der auch nur etwas von sozialen Bewegungen, Pop- und Blasmusik versteht, sollte die Finger von diesem Buch lassen: Man ärgert sich die ganze Zeit, rauft sich die Haare und denkt, das darf doch alles nicht wahr sein. Joey Ramone rotiert schon mal mit einer halben Umdrehung pro Minute im Grab. Wenn das nicht Platz schafft ...
Im „Himmel unter Berlin“ wird wirklich alles auf den kleinstmöglichen Nenner gebracht – als hätte da einer gar nichts mitbekommen. Ist diese Art des Verschmelzens von Phänomenen und Signalen unterschiedlichster Bedeutungen und Kulturen zur totalen Belanglosigkeit eine Art milde Rache des Ostens? Im Buch fehlt jedenfalls eine Figur, die den Protagonisten und Erzähler ständig mit Tomaten bewirft.
Die Band, in der Peter Bém spielt, heißt natürlich „U-Bahn“, deren erster Song – na klar – „Tunnel“. Berlin wird zu einem böhmischen Dorf und unsere Kapeiken aus dem Ostblock und auch die aus dem Westblock benehmen sich daneben. Das wird rührend erzählt und menschelt auch. Ein gewisser „Pancho Dirk“ berichtet von seiner Frauen-Abschlepp-Taktik. Eine Katrin wird eingeführt, die von Island träumt. Wie exotisch. „Ist doch spannend, was die Welt so bewegt“, sagt sie. Und: „Sie lieben beide Mick Jagger, und die Tschechen und die Amis lieben Jaromír Jágr. Finden Sie nicht, dass die Welt total vernetzt ist? Das ist Globalisierung: Jeder von uns hat mit irgendwelchen Jägermeistern zu tun.“ Klar, auf zur Jägermeisterschaft! Und alles, was sonst passiert ist an Lebensumständen und Gedankenwelt, wo ist das eigentlich geblieben? Egal, Hauptsache, man ist vernetzt mit dem Wir-Gefühl eines globalen Image-Missverständnisses. Im „Himmel unter Berlin“ wimmelt es von abgehalfterten Klischees.
Ingo Schulze findet das Buch „leicht“. Stimmt! Etwas zu leicht viel-leicht. Ja ja, dies ist ein schönes, kleines Buch, das lustig schweigt. Und das ist grauenvoll. Wir sind kulturell und politisch wieder in den 50er Jahren angelangt. Es gibt Regression, Baby! Oder: „You’re not up to much!“
Marke Schmidt
Jaroslav Rudis: Der Himmel unter Berlin, Rowohlt Berlin 2004