5. Januar 2005

Metaphysische Kugeln

 

Die Kugel als Phantasma und Immunsystem: heißes Baukonzept eines frühen Erdzeitalters, sucht es noch immer Weltveranschaulichungsversuche von Leuten heim, die mehr sein wollen als bloße Ideengeschichtler und fest davon überzeugt sind, dass ihre Sicht der Dinge das Zeug zum Paradigmawechsel unserer unmetaphysischen Zeit hat. Dass man nicht von der Eins, sondern mindestens von der Zwei ausgehen müsse (Grundthese von Sphären I, Blasen) – reicht das aus, um auf eine geometrische Figur zurückzugreifen, die nicht nur längst ausgedient hat, sondern der man schon immer ihr vorurteilsbehaftetes Prestige vorgeworfen hat, nämlich ihre Perfektion? Was überträgt sich so leicht auf diese Gestalt, oder was übernehmen wir von ihr, wenn wir von gelungenen Formen sprechen und diese ziemlich leichtfertig auf solche des Lebens übertragen? Das fragte sich zum Beispiel auch Jacques Lacan in seinem Seminar über die Übertragung: „Warum hat diese Form privilegierte Vermögen?“ In Platos „Timaios“ werden wir etwa belehrt, dass die Kugel alles, was sie braucht, in sich selbst hat: sie ist rund, voll, zufrieden, liebt sich selbst, und vor allem hat sie keine Ohren oder Augen, weil sie definitionsgemäß die Hülle von allem ist, was lebendig ist. Aber Plato wäre nicht der von Lacan so genannte metaphysische Dandy, ließe er nicht in seinem „Symposion“ vom Komödienschreiber Aristophanes eine ergänzende Lobrede über die Kugel halten, die richtungsweisend von einem Schluckauf zunächst verhindert, dann eröffnet wird. Die Menschen, so heißt es dort, waren früher keine Einzelnen, sondern zu zweit in einer Kugel versammelt, sie waren Kugelwesen, als Mann-Mann, Mann-Frau oder Frau-Frau. Natürlich waren sie nicht vollkommen rund, streckten doch vier Beinchen und vier Ärmchen aus der Rundheit heraus, und trotz aller Zufriedenheit, die die Zwei in einem Einem hatten, hegten sie große Pläne und wollten die Götter attackieren. Von wegen also Selbstgenügsamkeit, Zufriedenheit und Sinn-losigkeit, die hatten was vor, diese Wesen, die man eigentlich korrekter als uns Individuen nennen könnte, denn die Götter haben den Angriffsplan spitz gekriegt, und durch Apollon ließ Zeus diese Kugelwesen zur Strafe teilen, sodass sie fortan ihre fehlende Hälfte suchen müssen. Was, wie wir alle wissen, nicht ganz einfach ist: Entweder man findet nie, oder man findet, wenn man gefunden hat, dass man doch noch was anderes finden sollte. In diesen mythischen Kugelwesen liegt jedenfalls schon die ganze Ambivalenz dessen, was Lacan mit der Kategorie des Imaginären ins Spiel brachte: auf der einen Seite (die Timaios-Seite) haben wir es bei Kugeln mit Formen zu tun, die nichts übersteigt und an die man nichts dranhängen kann, auf der anderen (die Aristophanes-Seite) lauert in ihr immer schon ein hinkendes, verhindertes, aggressives Moment, denn zu jeder Kugel lässt sich eine denken, die noch größer, umfassender, schöner usw. ist. Was nichts anderes heißt, dass selbst der vom Schmiedegott Hephaistos den Sterblichen vorgestellte Dauerfick durch Zusammengeschweißtsein nicht das letzte Wort behalten wird. Jede Kugel ist schrecklich. Die Kugel ist genauso dumm wie das Imaginäre: beide kennen nur zwei geschaltete Zustände, super und scheiße, und wenn dann noch der eine Pol wegfällt wie beim Dauerdepressiven, der sich in seiner Kapsel eingerichtet hat, kann man nur noch abwinken. Also Schwamm drüber, über die Kugel.

 

Dieter Wenk (15.4.01)

 

Peter Sloterdijk, Sphären II, Globen

 

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