5. Januar 2005

West-Ego ohne Kern

 

Der Titel dieses schmalen Romans nennt das Jahr, in dem er spielt. Der erste Teil Anfang 1979 in Teheran, der zweite Teil Ende dieses Jahres in China. Es war vermutlich das Jahr, in dem der Westen zur Kenntnis nehmen musste, dass der Islam keine Antiquität sei, der lediglich von Zeit zu Zeit mit rhetorischen Scharmützeln darauf aufmerksam macht, dass das Christentum nicht die einzige Weltreligion ist. Aber da der Westen nicht (mehr) als Christentum auftritt, hat der Gegner natürlich einen anderen Namen, es ist der Satan, und dieser Satan sind die USA. Eine Romanfigur, Massoud mit Namen, bringt das in einem Initiationsgespräch mit dem von allen als etwas einfältig bezeichneten Ich-Erzähler auf den Punkt: „Wenn wir es nicht selbst in uns ändern, werden wir alle kriechen müssen, wie Schnecken, blind, um ein leeres Zentrum herum, um den großen Satan herum, um Amerika.“ Und direkt danach: „Wir haben uns alle verschuldet, weil wir Amerika zugelassen haben. Wir müssen alle Buße tun. Wir werden Opfer bringen müssen, jeder von uns.“ Und schließlich: „Es gibt nur eine Sache, die dagegen stehen kann, nur eine ist stark genug: Der Islam.“ Das sind, vielleicht nicht ganz freiwillig, die Kerzen, die dieses Buch gerade jetzt bei seinem Erscheinen zum Leuchten bringen. Der Zeitbezug. Die weltdramatische Komponente. Das Visionäre. Aber ich halte diesen Aspekt lediglich für einen Geschmacksverstärker. Denn Christian Krachts Buch hat – zumindest in seinem ersten Teil – eine ganz andere Stärke, und die liegt in der literarischen Erfindung, in der Darstellungsart und den charming figures, die aber mit Sicherheit die Leserschaft spalten werden. Wie in „Faserland“ Zynismus, Dekadenz, Partyleben, aber das ganze auf fremdem, höchst unsicherem, revolutionärem Boden. Die Figuren können hier nicht einfach nach einer durchzechten und Drogen geschwängerten Nacht nach Hause oder ins Krankenhaus gehen, wenn ihnen danach ist oder es denn sein muss. Da kann man schon mal schnell sterben oder, wie der Ich-Erzähler, mit seltsamen Gestalten in Verbindung kommen, die mit der Gunst der revolutionären Stunde ihre soziale Auferstehung feiern, um gegenüber einem verliberalisierten West-Ego ohne Kern, eben dem Erzähler, ein bisschen Nosferatu zu spielen. Die Einfalt ist ja immer ein bisschen „wide open“ und letztlich nur scharf darauf, sich mal so richtig determinieren zu lassen. Hatte das auf den ersten Seiten von „1979“ noch der Begleiter des Erzählers, der Architekt Christopher, diesem gegenüber vollbracht – in einem behutsam abgefederten, vor allem psychischen, kreuzweise gestalteten Sado-maso-Verhältnis auf der Grundlage einer vergangenen homoerotischen Beziehung – so tritt nach dessen Tod ein ganzes System an die frei gewordene Stelle, und das ist nun nicht der Islam, dem sich der Ich-Erzähler unterwerfen würde, sondern der Kommunismus chinesischer Prägung. Und hier passiert nun wirklich eine definitive Einschreibung im wahrsten Sinn des Wortes in ein Bewusstsein, während alles vorher Passierende, wozu auch die Wallfahrt des Erzählers zum Mount Kailasch gehört, Teil eines Lebensgestus’ ist, den man immer noch am besten als ironisch beschreibt, denn auch die Ironie ist wide open. Damit ist in China Schluss, denn während seiner lustigen, vermeintlich Seelen rettenden Bergumrobbung mit zwölf weiteren Pilgern wird der Erzähler von chinesischen Soldaten festgenommen und als politischer Gefangener in mehrere Umerziehungslager gesteckt. Doch der Erzähler steht nicht, wie man das vielleicht erwarten könnte, auf der Seite Dostojewskis oder Solschenjizins. Er hält es mehr mit Nietzsche und Camus: amor fati, und sei es noch so beschissen. Der Roman endet somit ziemlich provokativ, denn man weiß nicht, wo denn jetzt noch der Gegner steckt. Und damit gibt es auch keine gute Seite mehr. Der Leser muss sich jetzt ein bisschen selbst irritieren. A propos Irritation: Als Christian Kracht neulich zu Gast bei Harald Schmidt war, bekannte er, dass er beim Verfassen des zweiten Teils häufig gelacht habe. Auch Kafka soll ja beim Vorlesen einiger seiner bekanntesten Erzählungen Tränen gelacht haben. Damit hat Herr Schmidt nicht viel anfangen können. Ich meine mit Christian Krachts Lachen. Aber damit kommen schon wieder andere Strategien ins Spiel.

 

Dieter Wenk (26.10.01)

 

Christian Kracht, 1979, Köln 2001

 

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