29. Dezember 2004

Krater im Gehirn

 

Hiroshima, April 1945. Der sechsjährige Gen lebt mit seinen vier Geschwistern und seinen Eltern in ärmlichen Verhältnissen. Als der Vater es wagt, sich öffentlich gegen den Krieg auszusprechen, bekommt die Familie die volle Gewalt der japanischen Militärdiktatur zu spüren. Der Vater wird verhaftet, die Kinder werden in der Schule drangsaliert. Weil er das Leid seiner Familie nicht mehr mitansehen kann, meldet sich der älteste Sohn freiwillig zur Luftwaffe – vielleicht kann sein Heldentod als Kamikazeflieger dazu beitragen, den Ruf der Eltern wiederherzustellen. Auch Gen steht seiner Familie, so gut er kann, zur Seite: Sei es, dass er seinem kleinen Bruder durch eine List das Spielzeugkriegsschiff beschafft, das der sich schon so lange gewünscht hat; sei es, dass er sich wilde Raufereien mit dem Gemeindevorsitzenden liefert, der den Eltern das Leben schwer macht.

 

Der 6. August beginnt einigermaßen friedlich. Der Vater darf aus dem Gefängnis zurückkehren. Nach langer Zeit hat die Familie wieder etwas zu essen. Keiner in Hiroshima weiß, dass sich zu diesem Zeitpunkt der B-29-Bomber „Enola Gay“ bereits seit Stunden im Anflug befindet und, wie festegelegt, um 8 Uhr 15 Ortszeit eine Atombombe – von den US-Soldaten sarkastischer Weise „Little Boy“ genannt – über der Stadt abwerfen wird. 80.000 Zivilsten werden verbrennen, bis zum Ende des Jahres werden 60.000 weitere an den unmittelbaren Folgen sterben.

 

Keiji Nakazawa hat den Abwurf der Atombombe auf Hirshoma selbst miterlebt. Die Tetralogie „Barfuß durch Hiroshima“, von der jetzt in einer Neuausgabe der erste Band, „Kinder des Kriegs“, erschienen ist, basiert weitgehend auf autobiografischen Erlebnissen. Bereits 1972 verfasste Nakazawa nach dem qualvollem Tod seiner Mutter den 48-seitigen Comic „Ore wa Mita“ („Ich habe es gesehen“), bevor er sich noch im selben Jahr daran macht, auf über 900 Seiten das Thema erneut zu bearbeiten. „Hadashi No Gen“ lautete der Titel seines Epos, „Barfüßiger Gen“. Das mehrdeutige Wort „Gen“ enthält dabei die ganze Programmatik von Nakazawas Comics: Der Name der Hauptfigur heißt „Quelle, Wurzel“, „Genbaku“ heißt „Atombombe“, „Genki“ schließlich „voller Leben“. Denn bei aller Schrecklichkeit und Hoffnungslosigkeit der Geschichte ist „Barfuß durch Hiroshima“ letzten Endes von tiefem Humanismus geprägt; in all den Repressalien, die die Familie durchleben muss, wird sie stets von selbstlosen Einzelgängern unterstützt; und in dem post-atomaren Chaos hat der kleine Gen doch noch den festen Willen weiterzuleben, und sei es auch nur, um seiner Mutter und ihrem Baby zu helfen. Die „Botschaft“ des Comcis ist insofern deutlich: Er habe seinem Hauptcharakter den Namen „Gen“ gegeben, so Nakazawa in der Vorbemerkung des Buches, in der Hoffnung, dass dieser eine Wurzel und Quelle der Kraft für eine neue Generation der Menschheit sein kann – einer Generation, die die Kraft hat, „Nein“ zu nuklearen Waffen zu sagen.

 

In seinem Zeichenstil steht „Barfuß durch Hiroshima“ ganz in der Tradition des Manga – der eigenständigen japanischen Variante des Comics: Stark emblematische und oft nur skizzenhaft angedeutete Schwarzweiß-Panels an der Grenze zur Karikatur, die den Leser aber schon sehr bald in ihren Bann ziehen. Ein postmodernes Feuerwerk wie in Art Spiegelmans „Maus“-Bänden, die über 15 Jahre später metafiktional auch mit dem Medium Comic spielen, sollte man allerdings nicht erwarten. Ebenfalls für ein westliches Publikum gewöhnungsbedürftig dürfte die Darstellung von alltäglichen Grausamkeiten sein: beispielweise wenn der ansonsten doch so aufrechte Vater seine Söhne regelmäßig blutig schlägt oder wenn diese dem Gemeindevorsteher bei einer Prügelei den Finger abbeißen. Auch das Thema des Abwurfs der Atombombe selber, der, zwar frei von jedem Revanchismus, aber gleichzeitig auch ohne jede kritische Stellungnahme gegenüber der Politik der USA geschildert wird, erscheint etwas unterkomplex. Zeitlose Antikriegsbotschaft und politisch überkorrekte Darstellung hin oder her: Abgesehen von der unüberbietbaren Dramatik des Geschehens liegt die eigentliche Stärke des Buches in seinem Dokumentcharakter, in der Antwort auf die Frage, was die Katastrophe für die Menschen in der Stadt bedeutete. Wir kennen das Foto des Atompilzes, wir kennen die Luftaufnahmen, die Taschenuhr, die exakt um 8 Uhr 15 stehen blieb. Was aber keiner weiß, ist, wie es war, das atomare Inferno unmittelbar zu erleben. Zum Ende hin, wenn der atomare Sturm über der Stadt niedergeht, sind die Bilder und Sätze – bei allem Comichaften – denn auch von einer kaum noch zu ertragenden Intensität.

 

Erneut steht man so vor dem Paradox des „dokumentarischen Comic“. Sei es der „autobiografische Comic“, der dieses Jahr mit Marjane Satrapis „Persepolis“-Bänden und Craig Thompsons „Blankets“ neue Höhen erreicht hat, seien es Comic-Reportagen wie Joe Saccos „Palastine“: Trotz offensichtlicher Fiktionalität geht von den gezeichneten Bildern und Sprechblasen ein Wahrheitsgehalt aus, der auch durch vermeintlich „authentische(re)“ Medien, wie Foto oder Film, nicht übertroffen werden könnte. Vielleicht ist es so, wie W.G. Sebald einmal schrieb: Da die genaue Schilderung eines Massengrabs unmöglich sei, müsse eben Fantasie hinzukommen, die auf dem dokumentarischen Material aufbaut – nur so werde das Unbeschreibliche am Ende fassbar. Insofern brennt die Geschichte von „Barfuß durch Hiroshima“, wie Art Spiegelman in seinem Vorwort zur vorliegenden Neuausgabe von Nakazawas Comic schreibt, „einen radioaktiven Krater ins Gehirn, und man kann sie nie wieder vergessen.“ Im Lauf des nächsten Halbjahres werden im Carlsen Verlag die restlichen drei Bände „Gens“ erscheinen.

 

Thomas von Steinaecker

 

Keiji Nakazawa: "Barfuß durch Hiroshima" - Teil 1: "Kinder des Krieges". Aus dem Japanischen von Nina Olligschläger, Carlsen 2004. 302 Seiten, 12 €

 

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