29. Dezember 2004

„Ja, bitte zur Kritik“

 

Von 1947 bis 1976 hat die Gruppe 47 existiert und ist an einbrechender Realität zugrunde gegangen. Dass sie sich 20 Jahre so hartnäckig gegen die Weltläufte abschotten konnte, obwohl man stets junge Autoren zur Lesung einlud, hat etwas mit ihren Gründungsideen zu tun, die in höchstem Grade utopisch verblendet waren. Eine Art oppositioneller Konsens, der sich nicht politisch sondern literarisch formte.

 

Dem Willen zur Meinungsbildung durch Literatur und nichts anderem verpflichtet, fand sich eine heterogene Gruppe Menschen zum jährlichen Meinungstausch zusammen. Ihre Opposition bestand vor allem darin, sich nicht über das Wirtschaftswunder, sondern über Literatur, die im Wirtschaftswunder entsteht, zu unterhalten, die eigentümlichen Analogien dieser literarischen Produktionswut und den ersten Jahren der BRD war kein Thema. Eine Theoretisierung war unerwünscht. Es wurde streng am Gegenstand, dem vorgelesenen Text, festgehalten. Ein kluges Verfahren, denn eine Grundsatzdebatte hätte die Mitglieder bald ewig getrennt. So ward also das Handwerk und nicht der Anlass diskutiert. Die Legitimität war durch die jeweilige Atmosphäre gegeben, geprägt durch Anzahl und Zusammensetzung der Gruppe.

 

Viele Autoren fehlen in diesem Kreis, auch die nach Deutschland zurückkehrenden Exilanten, Antisemitismus ist keine Seltenheit, aber das wird nicht wahrgenommen, genauso wenig wie die jeweilige Nazivergangenheit der Mitglieder. Schließlich soll es um neue Literatur gehen.

 

Es herrscht eine rustikale Art zu kritisieren. Klare Aussagesätze finden sowohl in der Kritik wie in den Texten selbst den größten Anklang. Dass diese Art zu reden, zwar sehr viel mit Hemingway und Gertrude Stein zu tun hat, aber auch der verbalen Äußerung eines Landsers nicht unähnlich ist, decouvriert die Gruppe als den Krieg überlebt Habende und von ihm Geschädigte.

 

Das Set eines solchen Treffens muss man sich vorstellen wie eine Talkshow mit angeschlossener Redaktionssitzung. Ein Tisch, zwei Stühle. Auf dem einen sitzt Hans Werner Richter, er ist der unangefochtene Häuptling der Gruppe, auf dem anderen der Delinquent. Arno Schmidt, der 1953 eingeladen war zu lesen, bemerkt in seiner Absage gegenüber seinem Verleger grämlich: „Muß man bei der Gruppe 47 auch singen, oder braucht man nur nackt vorzulesen?“ Nach der Lesung gibt’s Kritik und der Schreiber muss das ertragen. Es waren also zwei Prüfungen. Die Prüfung des Textes und die Prüfung des Autors auf seine Kritikfähigkeit.

 

Dennoch geht die Kahlschlagheftigkeit der Kritik zurück und zwar umso stärker die Gruppe ins öffentliche Interesse rückt, durch ihren Preis, ein Vorläufer des Büchner Preises, entwickelt sich ein publizistisches Ringelreigen in den Feuilletons, für die die Gruppe zu einer Literatur Börse wird, deren Funktion später durch Reich-Ranicki im Klagenfurter Literaturententeich wieder aufgenommen wird. Was bedeutet, dass die bloße Beteiligung an einem Treffen den Autor adelt und die Kritik zu brillanter Hochform aufläuft, die den Text vergessen lässt.

 

Das wird der Politik in den 60er Jahren zu bunt. Mitglieder der CDU bezeichnen die Gruppe als „geheime Reichsschriftumskammer“, und Ulrike Meinhof äußert, dass die Gruppe nie linker als die SPD war. Studenten demonstrieren, und vor den verbalen Auseinandersetzungen mit ihnen scheut man sich. Wie man sich eben immer vor einer konkreten über den Text hinausreichenden Konsequenz scheute. Folgerichtig endet die Gruppe 74 in einer Zeit politisch erotisierten Voranstürmens, der sie nichts zu entgegnen hat. Die späteren Treffen sind nostalgisch weichgespülte Varianten der einstigen Neorealisten.

 

Heinz Ludwig Arnold hat diese Monografie sinnreich gestaltet. Briefwechsel, Diskussionsausschnitte und zur Debatte stehende Texte chronologisch zusammengestellt, kommentiert und mit vielen merkwürdigen Fotos illustriert, die auch einen Blick auf Trinkfestigkeit und gesellschaftslöwig blickende Literaten erlauben.

 

Nora Sdun

 

Die Gruppe 47, dargestellt von Heinz Ludwig Arnold, Rohwolt Monographie 2004

 

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