29. Dezember 2004

Durcharbeitung

 

Lyotard sagt uns noch einmal etwas im Blitz des Ereignisses. Seine Frau gab relativ unbemerkt einige in einem Ordner („Supplément au Différent“, 1986–1998) gesammelte und teilweise bereits publizierte Texte an die Öffentlichkeit. Obwohl sie sowohl als fehlendes Herzstück des „Widerstreits“ und „sein philosophisches Buch“ gelesen werden sollen (so Dolorès Lyotard), wurde das im Frühjahr beim Passagenverlag erschienene Buch bisher in kaum einer philosophischen Zeitung oder dem Feuilleton besprochen. Nichtsdestotrotz wird das Buch „Mit der Bitte um Einfügung“ eröffnet, die man folgendermaßen lesen möchte: Sehen Sie dies als Nachtrag zu einem niemals abschließbaren Werk, in dessen Mittelpunkt statt des Konsenses als Ziel der Dissens steht, der von der Übereinkunft zeitweilig aufgehoben wird.

 

Der Titel „Das Elend der Philosophie“ stammt vermutlich von Marx gleichnamigen Buch, das neben dem „Kommunistischen Manifest“ den Grundstein zu seinem Denken legt. Analogien finden sich: Was dem einen das Kapital und das Gut, ist dem anderen die (demütige) Sprache und die Welt. Beide sprechen vom unmöglichen oder zumindest nie restlosen Tausch, sehen diesen aber ambivalent als einzige Möglichkeit zur Verhandlung und Darstellung. Das Elend ist gegeben, die Trennung beständig.

 

Bei der Lektüre entgleitet Lyotard dem Lesenden. Sein Denken hat weder Ursprung noch Grund, es umkreist einen Gegenstand, ohne ihn konzise zu bestimmen. Dieses sich Entziehen ist bereits in Schrift und Methode angelegt, um „durch und in dem Text etwas einzufangen, was er nicht zu schreiben weiß“. So wenig, wie es möglich erscheint, über das Angesprochene zu schreiben, vermag die Sprache diesem einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, und der Entzug des Gegenstands vor der Darstellung erfolgt auch innerhalb des kognitiven Systems, als nicht gelöster Widerstreit zwischen dem Denken und der Schrift. Es handelt sich bei diesen Texten um eine Durcharbeitung des historischen Grundes, seiner bekannten Werke, einer Wiederaufarbeitung bereits von Lyotard bekannter Positionen, die dadurch gleichermaßen bestätigt wie verunsichert werden und das Denken in „Alarmbereitschaft“ versetzen.

 

Wie gewohnt spricht Lyotard vom Erhabenen, dem nicht Darstellbaren, der Emotion und dem Denken im Jetzt, der philosophie en acte. Dieses Aktieren bewahrt der nicht in die Zukunft orientierten Gegenwartsphilosophie die Möglichkeit zum Ereignis, zum Unvorhergesehenen und der Erweiterung – dem Denken dessen, was nicht denkbar ist. Da Lyotard ohne festes Bezugssystem spricht und dieses bekanntermaßen als inexistent betrachtet, fällt eine kritische Positionierung ihm gegenüber schwer. Allenfalls kann es einen Kommentar zu seinem Buch geben, oder schlicht den Hinweis, dass da etwas ist und nicht vielmehr nichts.

 

Hannes Loichinger

 

Jean-Francois Lyotard: Das Elend der Philosophie, Passagen Verlag 2004

 

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