17. Dezember 2004

Genialer Nerd

 

Chris Ware ist ein Nerd. Einer, der schon einmal 19 Stunden am Stück vor dem Computer verbringen kann. Einer, der bis vor kurzem eine Katze, aber nur wenige Freunde und keine Freundin hatte. Einer, der ebenfalls bis vor kurzem noch in zahlreichen Nebenjobs tätig war, um irgendwie seine Miete bezahlen zu können. Einer, dessen Lieblingsbeschäftigung darin bestand, auf Flohmärkten nach alten Comic-Heften zu suchen. Und natürlich zu zeichnen. Denn Chris Ware ist, Nerd hin oder her, einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren von „graphic novels“, den eher ernsten Comics für Erwachsene.

 

In Daniel Raeburns Monographie wird jetzt erstmals Leben und Werk des US-Künstlers beleuchtet, der dieses Jahr gerade mal 37 wurde, dessen Einfluss auf eine neue Generation von Comic-Künstlern aber gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Leben und Werk – das ist in Chris Wares Fall aufs Engste miteinander verbunden, wie im einleitenden Aufsatz Raeburns nachzulesen ist. Denn so wie sein Alter Ego, Jimmy Corrigan, der Titelheld des gleichnamigen knapp 400 Seiten starken Buchs, hat Ware seinen Vater erst als Erwachsener und lediglich für einige Stunden getroffen. So weist eine kurze Rechnung auf dem Buchumschlag von „Jimmy Corrigan“ darauf hin, dass die vier oder fünf Stunden, die es braucht, um das Buch zu lesen, die gesamte Zeit sind, die Ware selbst mit seinem Vater verbrachte. Und auch die zweite graphic novel, an der Ware zurzeit arbeitet, „Rusty Brown“, hat einen Nerd zum Thema, dessen Lieblingsbeschäftigung es ist, nun ja, Comics zu sammeln. Ein Nerd, der keine Freunde hat und permanent von Depressionen gequält wird.

 

Wie sich Autobiografie und letzten Endes ermüdende Selbstbespiegelung dabei aber in höchst komplexe Comic-Romane verwandeln, das zeigt Raeburns Text: Die Figuren entfernen sich im Laufe eines Projekts zunehmend von ihren Originalen und entwickeln ein eigenes Leben; durch das diskontinuierliche Erzählen, durch das in „Jimmy Corrigan“ beispielsweise zwischen vier verschiedenen Generationen oder in „Rusty Brown“ zwischen Rusty und der ersten bemannten Mars-Mission hin und her geblendet wird, wird auch so etwas wie eine Kulturgeschichte der USA und einer Einwandererfamilie im Allgemeinen geschrieben. Und schließlich die Bilder selbst. So niederschmetternd die Handlungen von Wares Comic sein mögen; seine an Hergé geschulte „klare Linie“ und vor allem die leuchtende Kolorierung verleiht den Panels eine auf den ersten Blick bestechende Poesie. Chris Ware: „Es gibt keine Möglichkeit zu sagen ‚Oh, das Leben ist so wunderschön!’, ohne kitschig zu klingen. Also muss man es zeigen.“

 

In dem umfangreichen kommentierten Bildteil des Buchs wird zusätzlich deutlich, welche Entwicklung Ware durchgemacht hat, seit er Anfang der 90er begonnen hat, professionell zu zeichnen. Von den frühen Arbeiten, den zynischen Schwarzweiß-Comics „Quimby the Mouse“ und dem frühen Alter Ego „Potato Man“, der jedoch immer Karikatur bleibt, über die verschiedenen Kurz-Strips in Wares inzwischen legendärem Magazin „ACME Novelty Library“, in dem er auch „Jimmy Corrigan“ serialisierte, bis hin zu den laufenden Folgen von „Rusty Brown“ und „Building“.

 

Die Figuren haben über die Jahre an Tiefe gewonnen, die von Anfang an umwerfende gestalterische Fantasie der Comics und der diskontinuierliche Discours hat sich hier noch einmal gesteigert: „Building“ besteht aus großformatigen Seiten, die mehr an Lexikoneinträge, Gebrauchsanweisungen oder Spielbretter erinnern als an traditionelle Comics. Die unterschiedlichen Geschichten der Bewohner eines Hauses, inklusive der im Garten beheimateten Bienenfamilie, werden hier zu einem Komplex miteinander verbunden, der höchste Anforderung an den Leser stellt und trotzdem – und das ist die große Kunst Chris Wares – Spaß macht. Der Name der Serie, „Building“, leitet sich dabei von einem möglichen etymologischen Ursprung des Comics ab. So hat Art Spiegelman betont, dass „story“ sowohl „Historie“ als auch, im Englischen, „Stockwerk“ heißen könne und weiter: „Bild“, da es im Mittelalter gebräuchlich war, vor allem die Fenster in den Stockwerken von Kirchen mit Bildern zu gestalten.

 

Erkennbar werden schließlich auch die Vorbilder, auf die Ware sich, neuerdings verstärkt in „Rusty Brown“, bezieht: Neben den Klassikern „Little Nemo“ und „Krazy Kat“ besitzen hier die „Gasoline Alley“-Comics des immer noch kaum bekannten Frank Kings aus den 30er Jahren besondere Bedeutung. Die einzelnen Panels sind hier auf einer Seite oft so angeordnet, dass sich aus ihrer Gesamtheit wieder ein neues anderes Bild ergibt.

 

Der Aufsatz Reaeburns ist trotz interessanter Einblicke in die Biografie und Arbeitsweise Wares mit knapp 30 Seiten zu kurz ausgefallen; der über 100 Bilder umfassende Illustrationsteil mit Auszügen aus allen wichtigen Arbeiten Wares entschädigt um ein Vielfaches, sind doch die meisten Comics, abgesehen von „Quimby the Mouse“ und „Jimmy Corrigan“, verstreut erschienen und in Deutschland nur schwer oder gar nicht erhältlich.

 

Thomas von Steinaecker

 

Daniel Raeburn: Chris Ware, Yale University Press 2004

 

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