17. Dezember 2004

Erwartungsintention als Leiche

 

Bei der Verzweiflung ist es wie bei der Erleuchtung: Ist der Zustand erst einmal wieder vorbei, kann man nichts Sinnvolles mehr davon berichten. In der westlichen Hemisphäre haben wir es ja nicht so mit dem Nicht-Denken, grübeln liegt uns hingegen mehr. Da liegt es nah, dem Phänomen Verzweiflung, wenn auch im Nachhinein, fachgerecht auf den Grund zu gehen. Hält man vom Psychologisieren in diesem Zusammenhang nichts, kann man es philosophisch versuchen. Entweder methodisch, wie Descartes vorm Kamin, oder lieber gleich existenzialistisch wie Kierkegaard. Friedhelm Decher hat in seinem kenntnisreichen Essay „Verzweiflung. Anatomie eines Affekts“ die wichtigsten Positionen zu diesem Thema zusammengetragen und Verzweiflung als einen Affekt dechiffriert. Mit seinen früheren Werken, „Ethik des Selbstmords in der abendländischen Philosophie“ und „Besuch vom Mittagsdämon. Philosophie der Langeweile“, scheint der Autor ohnehin prädestiniert für die Beschäftigung mit den Schattenseiten des Lebens.

 

Verzweifeln kann man über vieles, über seine Mitmenschen, das Weltgeschehen oder aus Liebeskummer. Für Philosophen ist das natürlich nur Schall und Rauch. Solange sich überhaupt noch Gründe angeben lassen für die Verzweiflung, ist es mit ihr noch nicht so weit gediehen. Zugegeben, „verursacht durch manchmal nur einen kleinen Anlass, können plötzlich die Kulissen einstürzen“. In so einer Situation leidet der Verzweifelte an einem äußerst negativen Gefühl, und gutes Zureden oder rationale Überlegungen können da meist auch nicht helfen. Die wirkliche Verzweiflung tritt nach Decher aber erst dann ein, wenn keinerlei Alternative mehr in Aussicht steht. „In der Verzweiflung kommt die Erwartungsintention nur noch als Leiche vor“, formuliert der Philosoph diese absolute Hoffnungslosigkeit treffend, in der man sich folgerichtig auch über gar nichts Konkretes mehr aufregen kann.

 

Diese Analyse stellt die Verzweiflung auf eine Ebene mit Schopenhauers Langeweile oder Heideggers Angst, denen ebenso der Gegenstand fehlt. „Die Beziehung, die bislang zwischen Ich und Welt bestand, ist zerbrochen. Haltlos, ohne jeglichen Sinngaranten, hängt das Dasein über der gähnenden Leere des Nichts.“ Und an anderer Stelle: „In der Verzweiflung ist die Stimmung überhaupt zerbrochen, ist das Lebensgefühl im Ganzen aus den Fugen geraten.“

 

Für die Betroffenen stellt sich das naturgemäß anders dar. Der Verzweifelte glaubt sich im Unrecht oder mit irgendeiner Widrigkeit konfrontiert. Doch „in Wirklichkeit drückt sich eben darin, dass der Verzweifelte dem Irdischen so großen Wert beimisst, aus, dass er am Ewigen verzweifelt“. Vom Ewigen jedoch kann selbst Decher nichts weiter berichten, und so kommt er letztlich doch auf die Psyche zu sprechen.

 

Denn wenn es keinen Grund außerhalb gibt, wahrlich verzweifelt zu sein, muss er im Menschen selbst liegen. Der Verzweifelte ist, mit Schopenhauer gesprochen, auf sein leeres Selbst fixiert. Verzweiflung ist letztlich Zweifel an der eigenen Person. „Gelangt nun ein Verzweifelnder zum Bewusstsein davon, weshalb er nicht er selbst sein will, dann schlägt die Verzweiflung der Schwachheit um in die des Trotzes: Weil dem Verzweifelnden bewusst geworden ist, weshalb er nicht er selbst sein wollte, will er nun verzweifelt er selbst sein.“

 

Auch wenn man die unfreiwillig komischen Effekte dieses Mechanismus bildlich vor Augen hat, die Erkenntnis dieser gewiss nicht falschen psychologischen Drehung ist leider gleich Null, weil sie alles erklärt. Was Decher aber eindrücklich zu zeigen vermag, ist die Uneigentlichkeit des Affekts Verzweiflung. Denn so sehr der Verzweifelte im Zustand der Verzweiflung auch die Vernunft suspendiert, der „Verzweiflung liegt eine Entscheidung zugrunde, die ein Hin- und Herschwanken zwischen zwei Möglichkeiten des Selbstseins definitiv beenden soll“. Verzweiflung überfällt einen demnach nicht einfach so, sondern verdankt sich einer bestimmten, mehr oder weniger bewussten Einstellung dem Leben oder sich selbst gegenüber. Da sich Ursachen von Gefühlen zwar erahnen lassen, das aber in der Situation selbst auch nichts ändert, bietet Decher als Präventivmaßnahme auch nur verschämt das Sich-offen-Halten von Denk- und Handlungsalternativen an. Das ist immer gut. Erleuchtete und Verzweifelte werden es ohnehin nicht verstehen.

 

Gustav Mechlenburg

 

Friedhelm Decher: Verzweiflung. Anatomie eines Affekts. Zu Klampen 2002, 138 Seiten

 

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