10. Dezember 2004

Reigen, ohne Worte

 

Eine nicht mehr ganz junge Frau in ihrem Zimmer, sie geht hin und her, setzt sich, steht wieder auf, überlegt. Draußen ist es dunkel, die Fenster sind weit offen, eine Sommernacht. Von irgendwo kommen fremde Klänge herein, dazu Geräusche von Autos. Die Frau nimmt das Telefon, wählt, eine männliche Stimme meldet sich, sie legt auf. Dann geht sie, und ihr Kleid ist ganz tief ausgeschnitten. Ein erstes Lächeln auf den Lippen des Zuschauers, als die Frau in diesem Zustand an mindestens fünfzig gierigen, schmutzigen, gewaltbereiten jungen Männern entlanggeht; fast ist man enttäuscht, dass nichts passiert. Das Taxi ist auch schon da. Ankunft vor einem Haus. Die Blicke der Frau nach oben zu einem beleuchteten Zimmer, wo ein Mann wie ein Tiger auf und ab geht. Vor einer Bar sind zwei Menschen glücklich, dass es sie gibt. In der Bar, nebeneinander und doch voneinander getrennt, sitzen ein Mann und eine Frau, die noch nicht so weit sind. Tastende Blicke gehen meist ins Leere. Dann steht der Mann auf, legt das Geld auf den Tisch, an dem er sich zugleich vorbeizwängt, dicht am Tisch der Nachbarin entlang, und geht, sie erhebt sich auch, das war’s dann wohl, und dann ein kleiner brutaler Schnitt, die beiden liegen sich in den Armen, beginnen zu der italienischen Musik zu tanzen, wie überglückliche Tölpel. Ein später gezeigtes Noch-nicht-Paar an der gleichen Stelle ist nicht so romantisch, die Sexualnot ist zu groß.

 

Türen öffnen sich, Liebhaber werden begeistert hineingelassen oder auf später vertröstet. Ein Mann darf nicht mit in die Wohnung seiner Begleiterin, man weiß nicht, was bisher geschah, wie gut sie sich kennen, er drängt nicht, bleibt aber auf dem Platz vor der Wohnung stehen, nicht nur zehn Minuten oder zwei Stunden, sondern die ganze Nacht, und erst als es hell geworden ist, geht er entschiedenen Schritts weg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Man sieht Männern und Frauen zu, die nicht schlafen können, weil es zu heiß ist oder weil sie an jemand anderes denken. Eine schon etwas ältere Dame, ganz in weiß, wirft sich im Hotel müde, vielleicht auch verzweifelt, weil ihr Liebster nicht kam, aufs Bett und schließt doch etwas später die Tür zu ihrer Wohnung auf, wo ihr Mann friedlich schläft und auch den Wecker, der die Frau gleich aufstehen lässt, nachdem sie sich hingelegt hat, nicht hört. In diesem Film wird nicht viel gesprochen, und das Wenige kennt man aus dem Französisch-Unterricht: Ah, da bist du; komm herein; ich habe Angst… Manche Gesichter sieht man nur einmal, Ausgesetzte der Liebe, andere begleitet man ein Stück, ohne dass sich der Wunsch nach einer kompletten Geschichte bildet, die man ganz gerne vorgeführt bekommen möchte.

 

Chantal Akerman fängt das Beiläufige all dieser Begegnungen ein, und doch nimmt das serielle Prinzip ihnen nichts von ihrer Einmaligkeit: Jede Begegnung findet hier gewissermaßen nur einmal statt, erfahrenes Glück und Unglück lassen sich nicht auf später verschieben. Der Mechanismus der Wiederholung von Situationen wirft hier keine komischen Effekte ab, manchmal ist Humor im Spiel wie in der Anfangsszene. Ganz zum Schluss sieht man zwei Menschen, sie liegen auf einem Bett, stehen sie gleich auf, weil die Nacht vorbei ist, oder fängt sie jetzt erst richtig an? Den Abspann begleitet ein beeindruckender Ton – einer Geige? Klingt bedrohlich. Der Tag.

 

Dieter Wenk (12.04)

 

Chantal Akerman, Toute une nuit, Belgien/Frankreich 1982