5. Dezember 2004

Die nächste Moderne kommt bestimmt

 

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Postmoderne zum attraktiven Begriff. Schon wurde darüber spekuliert, ob die Postmoderne die Moderne als Epochenbegriff beerben könnte. Aber 2004 hat sich das Bild gewandelt. Es drängt sich der Eindruck auf, die Postmoderne sei bloß ein vormillenaristisches Phänomen gewesen, eine Meditationshilfe auf der Suche nach neuen Begriffen. Um die Postmoderne ist es still geworden. Sie hat sich weder als Anti-Moderne noch als Nach-Moderne etablieren können. Inzwischen gilt sie vielmehr als Stachel, der sich in das Fleisch der ästhetischen Moderne gebohrt hat und sie durch ihre heftigen Infragestellungen auf sich selbst zurückwirft. Mit anderen Worten: Dank des postmodernen Interregnums ist es der Moderne gelungen, sich ihre eigenen Grundwerte wieder bewusst zu machen.

 

Jost Hermand, Professor für deutsche Kulturgeschichte in Wisconsin-Madison (USA), widmet sich in seinem neuesten Buch eben diesem Thema, „Nach der Postmoderne“ lautet der Titel seiner kunsthistorischen Analyse. Und das, was er auf 192 Seiten in Aussicht stellt, entspricht am ehesten einer neuen Utopie, einem neuen Weltaufschluss auf humanistischer Basis. Hermand widmet sich ausführlich der Zeit nach der Postmoderne. Er kritisiert die Utopielosigkeit der Kulturindustrie, die sich vorrangig an der strukturellen Effizienz der globalen Marktwirtschaft orientiert, und erteilt dem Dogma vom Ende der Geschichte („Posthistoire“) und der so beliebten Metapher der Gleichzeitigkeit („Echtzeit“) eine deutliche Absage. Das ist kämpferisch. Sein Selbstverständnis spiegelt sich am deutlichsten in dem Herbert-Marcuse-Zitat wider: „Jede Kritik, hinter der keine Utopie einer besseren Gesellschaft steht, bleibt letztlich an der Oberfläche.“

 

Jost Hermand will in die Materie eindringen – und macht sich dadurch selbst angreifbar. Aber eben das beeindruckt. Hier zeigt sich jemand bemüht, nicht mehr nur vom olympian viewpoint aus zu kritisieren. Allerdings verdichtet sich während der Lektüre der Eindruck, der Autor sähe sich als einzigen wackeren und streitbaren Postmodernekritiker auf weiter Flur, obwohl Gesinnungsgenossen wie André Gorz seit langem mit ähnlichen Argumenten weitreichende Reformen von den westlichen Demokratien fordern (z. B. in „Arbeit zwischen Misere und Utopie“, Suhrkamp, 1997).

 

Leider geht Hermand auch auf die Zeit vor der Postmoderne ein. Es ist fraglich, wie sinnvoll es ist, einen solch großen historischen Bogen zu spannen. Denn Hermand läuft Gefahr, dass mancher Leser an diesen Hürden scheitert und die wahrhaft brisanten Stellen im hinteren Teil des Buches nicht erreicht. In den ersten Kapiteln scheint nur wenig vom Charme frischer Gedanken aus dem 21. Jahrhundert durch, hier obsiegt vielmehr der grammatikalisch komplexe, dem Wissenschaftsjargon verpflichtete Abriss der jüngsten Kultur- und Philosophiegeschichte. Hermands Fokus richtet sich hierbei vornehmlich auf die Ismen des 20. Jahrhunderts, was dann in dem unverbindlichen, gleichmacherischen Edikt der Postmoderne gipfelt, die alle verschiedenen Strömungen in pseudodemokratischem Nebeneinander, in einem Folkloremultikulti zwangsvereinigt. Hermands Sprache erinnert hier oft an die Reden von Politikern, in ihrer Korrektheit starr, steif, im Bemühtsein um Fehlerlosigkeit ohne Geschmeidigkeit. Außerdem wirkt die Endlosaufzählung von Künstlergruppen oder absatzweise Namensnennung von wichtigen Künstlern störend – als wolle er mit lexikalischer Exaktheit auch die Seriosität der eigenen Thesen unterstreichen. Aber statt zu überzeugen, verwässert er.

 

Der geduldige Leser erhält aber doch die verdiente Belohnung. Im Laufe des Textes wird der Autor konkreter, und am Ende lässt er die Katze aus dem Sack. Hermand entwickelt eine neue Utopie, mit deren Hilfe die schönen Künste aus ihrem Korsett der Überästhetisierung befreit werden können. Man kann „Nach der Postmoderne“ als Leitfaden für eine moralische Renaissance im 21. Jahrhundert begreifen. Vehement geht er gegen das kollektive Ohnmachtsgefühl einer Gesellschaft an, in der alle davon überzeugt sind, der Einzelne könne die Prozesse der Globalisierung nicht beeinflussen – so als seien die Makroprozesse gänzlich vom Einzelwesen abgekoppelt. Hierbei spricht er orakelhaft vom „Spätkapitalismus“, stellt die Methoden der pluralistischen Entscheidungsinstrumente infrage, ebenso die für ihn nur scheinbar gewährleistete Pressefreiheit oder den Liberalismus, der dem Einzelnen schier unbegrenzte Möglichkeiten zur Selbstentfaltung vorgaukelt.

 

Der Postmodernebegriff, wie ihn Hermand definiert, kann als philosophischer Flankenschutz der Globalisierungsbefürworter verstanden werden. Diese postmoderne Strategie lokalisiert er in den USA, dem Land des enorm erfolgreichen Barbarismus, einer Liebe zur Oberfläche, zur Schlichtheit des rein Funktionellen. Die USA als Einwanderungsland bot die ideale Basis für eine gegenwartsbetonte Kultur, da alle Akteure wieder bei Null anfingen: Hier begann eine neue Zeitrechnung. Und weil das Einfache oft auch das Eingängige ist, ließ sich mit diesen einfachen Mitteln die Welt erobern. Militärisch, ökonomisch und kulturell.

 

Hermand macht aber nicht vor dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika halt. Auch die westlichen Demokratien Europas erklärt er als grundlegend reformbedürftig: „... Einschränkung der Luxusbedürfnisse, die Abschaffung des Reklamewesens, der Schutz der natürlichen Mitwelt, die Aufhebung des Großvermögens, die Liquidierung des Aktienwesens, das Mitbestimmungsrecht in der Schwerindustrie, die Ausweitung genossenschaftlicher Einrichtungen, eine arbeitsrechtlich garantierte Vollbeschäftigung sowie eine kommunitaristisch geregelte Kinder- und Altersversorgung."

 

Da wäre sie, die Utopie. Sogar für die Künstler hat er klare Vorschläge parat. Einmal mehr zitiert er Brecht, mit dem er die Meinung teilt, dass Kunst und Belehrung nicht zu trennen sind. Und er folgt Adorno in dem Wunsch nach einer Etablierung einer A-Kultur (Allgemeinkultur), da die Unterscheidung von E- und U-Kultur heute nicht mehr sinnvoll sei. Schon allein deshalb, weil der kleine, elitäre Zirkel der E-Kulturschaffenden für ihn nahezu identisch ist mit dem der E-Kulturkonsumenten: „Die E-Kultur befriedigt in ihrer randständigen ,Interessantheit‘ lediglich jene Akademikerkreise, die (...) inzwischen ihren früheren gesamtkulturellen Repräsentanz- oder Stellvertretungsanspruch, nämlich die wichtigste, wenn nicht alleinige Trägerschicht der nationalen Kultur zu sein, größtenteils aufgegeben hat.“

 

Die U-Kultur hingegen nennt er ein zeitvertreibendes Narkotikum, das von den großen Medienkonzernen kontrolliert unter das Volk gebracht wird. Dem A-Künstler von morgen gibt er folgende Orientierungsrichtung vor: „... alle, denen es um die Durchsetzung einer zukünftigen A-Kultur geht, (sollten)(...) für die Heraufkunft leitbildlicher Gestalten eintreten, die sowohl in ihrer verantwortungsbewußten ,Haltung‘ als auch mit ihren Vorschlägen zur Lösung der anstehenden politischen, sozioökonomischen, ökologischen und kulturellen Probleme als Vorbilder eines neuen Gemeinsinns gelten könnten.“

 

Nach diversen Krisen, auf die Hermand die Welt zuschlittern sieht, erhofft er sich die Renaissance neuer Werte, die wahrhaft menschlich sind, dem Schönen und Guten verpflichtet. Und die Kunst von Übermorgen stellt er sich wie folgt vor: „Ja, vielleicht wird dies einstmals jene Kunst sein, deren Werke man nicht mehr nach profiteinträglichen, formalästhetischen oder eventbetonten Maßstäben, sondern vornehmlich nach den Kriterien einer durchsetzungswilligen Humanität beurteilen wird.“

 

Hermands Blick richtet sich immer in alle drei Richtungen zugleich: In die Gegenwart, deren Mängel deutlich aufgezeigt werden müssen, um neue Lösungsmethoden zu finden. In die Zukunft, die anhand der gefundenen Lösungen positiv gestaltet werden muss. Und drittens in die Vergangenheit, die präziser gedeutet werden muss. Hermand wünscht sich eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem kulturellen und ideengeschichtlichen Erbe der Menschheit, klagt eine differenziertere Darstellung der Epochen ein. Die Postmoderne verleite dazu, die Historie nur noch als Glossar zur allgegenwärtigen Echtzeit zu verstehen. Da, wo die Jetztzeit überdominant ist, muss jedes Gestern auf einige unwesentliche Fußnoten reduziert bleiben, und jedes Vorher auf ein höchstens folkloristisch interessantes Ornament – vom Nutzwert, oder vom Lehrcharakter ganz zu schweigen.

 

Der schönste Begriff des Buches ist der des „kryptischen Elitismus“. Unsere Gesellschaft habe sich so sehr spezialisiert, dass nur noch Experten mit Experten diskutieren und eine allgemeine Debatte außerhalb der Bild-Zeitung nicht mehr stattfinde. Womit er Recht haben könnte, allerdings sollte auch er in Zukunft mit gutem Beispiel vorangehen. Denn seine eigene Sprache ist eindeutig die Sprache einer Elite.

 

Lothar Glauch

 

Jost Hermand: Nach der Postmoderne. Böhlau 2004, 198 Seiten, 19,90 €

 

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