2. Dezember 2004

Holzwege

 

Wenn Yasujiro Ozu der Adalbert Stifter der japanischen Seelenlandschaft ist, so Nagisa Oshima der Jean-Luc Godard der japanischen Nouvelle Vague. Während Ozu die verliebten jungen Leute ohne Aussicht auf Erfolg vor ihren Eltern knien lässt und zugleich die erstaunliche Erfolgsgeschichte der aseptischen japanischen Innenraumausstattung Revue passieren lässt, zwingen bei Oshima junge Männer ihnen unbekannte Mädchen auf den wackligen Boden gefällter, gebündelter, in der Wasserwüste schwimmender Baumleichen. Die kritischen Kommentare fließen bei Ozu ganz ungezwungen in Form auch noch wunderschöner Bilder ein, Telegrafenmasten, Eisenbahnzüge, verlassene Wege. Bei Oshima ist immer ein zorniges junges Gesicht dabei. Ganz nah gefilmt, auch schon richtig wackelig wie 40 Jahre später bei den Dänen.

 

Niemand traut niemandem, die ältere Schwester wirft der jüngeren ihre Freizügigkeit vor, die sie selber nie entwickeln konnte und durfte, die jüngere mokiert sich über die Spießigkeit der älteren, die diese an sich selbst hasst. Ressentiment im Elternhaus, der Vater wird bei der zweiten Tochter entmachtet. Brutale Gesten begehrender Männer können nicht dafür einstehen, dass es sich tatsächlich um Liebe handelt. Und darüber reden kann man schon gar nicht. Gemeinsam Motorradfahren macht dagegen richtig Spaß. Der Geschwindigkeitsrausch ist noch immer die fast beste Droge. Wenn die Mädchen sich Abends in der Stadt amüsieren, fahren sie anschließend nicht mit dem Bus nach Hause (wenn sie nicht gleich bei ihrem Freund übernachten), sondern trampen und steigen bei „älteren Herren“ ein, die auch erst mal ganz nett sind, dann aber doch entschieden eigene Interessen verfolgen. Kein Wunder, dass am Ende halbe Vergewaltigungen stehen.

 

Zufällig lernen sich so Makato, die oben schon erwähnte jüngere Schwester (Miyuki Kuwano) und Kiyoshi, ein Student (Yusuke Kawazu), kennen. Der junge Befreier wird kurz darauf selber zum Unterdrücker. Aber das ist immer noch besser für Makato, als gelangweilt zu Hause zu hocken oder blöd in der Schule rumzusitzen. Keiner weiß ja, wie das alles gehen soll. Die aufgestaute Energie muss erst mal raus, egal, wie weh es einem selber und anderen tut. Ein brechender Staudamm kennt keine Kompromisse. Aber das geht ganz gesetzmäßig ab. Wenn der Student durchdreht, hat er gleich eine Bande Mädchenschieber oder die Polizei auf dem Hals. Dann wird seine junge Freundin schwanger. Der Student emp- und befiehlt Abtreibung. Gut, dass er eine ältere Freundin hat, die ihm Geld gibt, wenn er mit ihr schläft. Ein paar traute Momente nach der Operation. Dann geht das richtige Leben wieder los. Oder fängt jetzt die Liebe erst richtig an? Liebe als Spaß plus Verantwortung? Man wird die Frage nicht beantworten können, denn die Sache endet tragisch. Die Bande hat noch eine offene Rechnung mit dem Studenten, die dieser nicht begleichen kann. Er wird zusammengeschlagen und stirbt. Derweil sitzt seine Freundin mal wieder auf dem Beifahrersitz wohlhabender Männer, kriegt aber intuitiv mit, dass ihr Freund gerade massiv Schwierigkeiten hat. Bei voller Fahrt öffnet sie die Tür, will aussteigen, helfen, ihr Kleid verfängt sich, sie wird mitgeschleift, dann sieht man sie auf der Straße, zu Tode geschleift. Dann spaltet sich der Bildschirm, ihr Freund wird eingeblendet, ebenfalls tot. Schließlich also doch Romeo und Julia.

 

Dieter Wenk (11.04)

 

Nagisa Oshima, Nackte Jugend, Japan 1960