Neurosen und Reportagen
Als in den 60ern „Pop“ zum Inbegriff einer counter-culture wurde und in allen Künsten Wirkung zeigte, da änderten sich auch die Dinge für eine Gattung, die bis dahin höchstens von Kindern ernst genommen wurde: den Comic. In der knallbunten, nichtsdestotrotz aber sauberen Märchenwelt, durch die Supermänner flogen, tauchten jetzt plötzlich recht unattraktive Figuren aus dem tristen Alltag auf und mit ihnen die Probleme, die es da eben so gibt und die nicht immer gelöst werden können. Parallel zum Marvel-Universum der Superheroes war eine andere Welt entstanden, eine der Loser, Nieten und Superzeroes. So drehte sich beispielsweise in den autobiografischen Comix Robert Crumbs, dem vielleicht bekanntesten Vertreter der damaligen alternativen US-Comic-Szene, alles um die eigenen Neurosen und vor allem sexuellen Obsessionen. Politisch war das oft herrlich unkorrekt, oft auch unappetitlich und manchmal einfach nur geschmacklos.
In den 70ern und 80ern, als sich Superheroes gut im Fernsehen und auf der Leinwand, aber nur mehr schlecht als Comic verkauften, machte die Alternativ-Szene erneut eine Wandlung durch: Muteten Crumb & Co. noch manchmal etwas pubertär an und waren sie vor allem etwas für jung gebliebene 68er, so schienen die Comix, die jetzt veröffentlicht wurden, endlich auch hinsichtlich ihrer Leserschaft erwachsen geworden zu sein. Das beste Beispiel hierfür: Art Spiegelmans Auschwitz-Comic „Maus“. Ein anspruchsvolles Thema wurde hier mit einem komplexen Narrationsmodell voll metafiktionaler Ebenen und intertextueller Anspielungen verknüpft; außerdem waren es hier nicht mehr unzusammenhängende Episoden, die aneinandergereiht wurden, sondern eine sich fortsetzende Geschichte, die am Ende mehrere 100 Seiten lang war. Der Begriff „Comics“ beschrieb diese Art von Werken nur unzureichend; fortan wurden sie denn auch „graphic novels“ genannt, womit die Gattung, die man als Bild-Text-Hybrid nie so recht einzuordnen wusste, erstmals „richtigen“ Büchern ebenbürtig erschien.
Gehörte Spiegelman eigentlich noch den Vätern der Comix an, so machte im Verlauf der 90er eine Generation jüngerer Zeichner und Texter von sich reden, die das traditionell gewordene Konzept der Alternativ-Comix weiterführten: Oft wie gehabt autobiografisch, und dabei das Personal der Superzeroes vergrößernd, dabei aber zumeist – und das war neu – visuell und textuell so verspielt und komplex, als gelte es sämtliche postmoderne Tendenzen unverzüglich und in komprimierter Form nachzuholen und auf die Spitze zu treiben. Chris Ware’s „Jimmy Corrigan“ war so ein Fall: Es ist die Geschichte des Titelhelden (besser: Titellosers), eines unscheinbaren Angestellten, und gleichzeitig die seiner Vorfahren, mit denen er das Erlebnis einer traumatischen Kindheit teilt. Das Buch, ein Wunder an nichtlinearer Erzählkunst sowie sterilen und dabei doch höchst poetischen Bildern (die sich z. B. schon einmal plötzlich zu einem Brettspiel anordnen können), wurde nicht zu Unrecht von Spiegelman mit „Ulysses“ verglichen. Etwas weniger komplex, dafür aber ebenso einflussreich und vor allem durch seine Verfilmung wesentlich erfolgreicher war dann Daniel Clowe’s „Ghost World“, die Coming-of-Age-Geschichte zweier Mädchen, die eine ähnliche Atmosphäre von an Fatalismus grenzender teenage angst verbreitet wie „Jimmy Corrigan“.
Besagter Chris Ware hat nun für „McSweeney’s“ eine Anthologie aus über 30 Beiträgen zusammengestellt, an der für den, der sich mit der zeitgenössischen nordamerikanischen „graphic-novel“-Szene auseinander setzen will, kein Weg vorbei führt. Crumb oder Spiegelman mit seinen „9/11“-Panels sind hier ebenso vertreten wie Ware selbst, der wieder mal eine Geschichte präsentiert, deren deprimierende Stimmung proportional entgegengesetzt zum Erfindungsreichtum steht, mit dem sie erzählt wird. Treten solche Superzero-Geschichten von Clowes, Jeffrey Brown, Joe Matt oder des neuen „shooting stars“ Adrian Tomine wie in der vorliegenden Anthologie geballt auf, so sticht doch eines ins Auge: Bei aller Eigenheit und Brillanz der Zeichen- und Erzählstile stellt sich schon sehr bald eine gewisse Erwartbarkeit der Handlung und Motive ein. Nach der x-ten Geschichte, in der der Protagonist über seine Neurosen oder seinen Selbstmord nachdenkt, ist der Bedarf, etwas aus der Welt der Loser zu erfahren, in der eben immer dasselbe, nämlich eben nichts, geschieht, erst einmal gedeckt.
Aber zum Glück gibt es ja noch Beiträge, die in eine völlig andere und überraschende Richtung gehen. Joe Sacco z. B., der in „Palestine“ oder „Safe Area Gorazde“ bahnbrechende Comic-Reportagen über die Intifada und den Bosnien-Krieg schrieb, führt in einem Auszug aus seinem neuesten Reportageband, „The Fixer“, detailgenau, berührend und dabei doch unterhaltsam seine Begegnungen mit Menschen im Nachkriegs-Jugoslawien vor Augen. Ganz anders, aber ebenso beeindruckend der Kanadier Chester Brown: War noch sein erstes Buch eine typische (autobiografische) Superzero-Geschichte mit dem sprechenden Titel „I never liked you“, hat er jetzt so etwas wie einen „historischen Comic“ über ein hier zu Lande eher unbekanntes Thema geschrieben: Die Geschichte des kanadischen Freiheitskampfes, erzählt anhand der Biografie des Volkshelden Louis Riel. Neben den kauzigen Kurz-Comics Ben Katchors, in denen sich ein Kosmos aus seltsamen Ritualen, bizarrer technischer Erfindungen und zwielichten Geheimbünden eröffnet, und Richard McGuires Beitrag, in dem ein ganzes Leben im Zeitraffer ganz ohne Worte und stattdessen mit Geräuschen beschrieben wird, sind noch die Aufsätze zu Klassikern des Comics, u. a. von John Updike verfasst, hervorzuheben. Wer z. B. hätte gedacht, dass der erste Comic in der Schweiz von dem von Goethe geschätzten Rodolphe Töpffer erfunden wurde (Bezeichnenderweise erzählt der erste „Comic“ Töpffers die Geschichte eines Mannes, der auf die fantasievollsten Arten, dabei aber stets ohne Erfolg versucht, sich umzubringen)?
So stellt man angesichts der überwiegend düsteren Atmosphäre der meisten Comics überrascht fest: Diese Anthologie macht, ganz im Sinne des (Post-)Pops, einfach Spaß – und übertrifft sowohl durch die präzisen Gegenwartsdarstellungen als auch die überwältigende Erzählkraft die meisten zeitgenössischen Bücher, die landläufig der „richtigen” Literatur zugerechnet werden.
Thomas von Steinaecker
Chris Ware (Hg.): Mc Sweeney’s Quarterly Concern. Number 13. The Comic-Issue