23. November 2004

Paranoiasystem Bundesrepublik

 

„Tagebuch: eigentlich auch nur sone Kleenex-Wickelrolle. Man wischt’n paarmal den Schreibtisch ab u. sich dann auch gleich die Hirnschale aus und betrachtet die anhängenden Fusseln interessiert als authentische Zeitdokumente.“

 

Sehr gut und komisch auch die durchweg grämlich gereizten Bemerkungen zur Lage der Nation im Spiegel der Selbstwahrnehmung als Schriftsteller als 40-jähriger Mann, dem die Kritik, wenn sie ihn denn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen beliebt, nicht passt und der zu Recht zurückbelfert und „transzendentale Bonmots“ spuckt, die „Zeichen der Zeit“ „zusammenstoppelt“ in ein „Paranoiasystem“ Bundesrepublik, welches in so noch nicht zu lesender Idiotie vor dem Leser entsteht und von Rühmkorf mit gleichmäßiger Distanz zu allen Beteiligten, aber mit herzlicher Teilnahme für einige Mitwirkende, ohne sich davon überwältigen zu lassen, beobachtet wird.

 

Der wohl weiß, dass „soviel Ungefallen am deutschen Gewese in Ost wie West wohl an den eigenen Augen liegt“, sich aber eben, zum Glück für heutige Leser, die ständige Kommentierung nicht verkneifen kann. So wird im Spielen der Vokabeln ein neuer und noch ein weiterer Gedanke entwickelt, gar nicht intendiert zuerst, dann aber aufdringlich allein der Alliteration zuliebe und wunderbar und richtig auch und sehr sympathisch.

 

„Eine humane Gutartigkeit der Betrachtungsweise“, die Rühmkorf Fontane attestiert, „aber alles dann von nähnadelfeinen Bösartigkeiten durchschossen“, ist auch ihm selbst eigen, obschon die Nähnadelfeinheit gelegentlich durch handfestere Geräte ersetzt wird und Witze, die man sich gerade in Fragen deutscher Terrorismusbekämpfung nicht entgehen lassen darf, die Schonungslosigkeit, zu der er eigentlich wütend ansetzte, auf abseitigen Äckern und Brachflächen landen lässt, zur eigenen Befriedigung, den aufgereizten Nerven zuliebe, und der allgemeinen Relativität zum Wohl.

 

Kollosal, wie lange sich der Hass der Rezensenten hält, deren eigene Werke von Rühmkorf einst als „literarische Schrumpfzone“ bezeichnet wurden und die 20 Jahre später dafür Rache üben, zur Verwunderung des Geschädigten. Rührend, wie so ein Recke, der die Regeln so gut kennt, sich a) immer aufregt, wenn die Gesetze ineinander schalten und die Kunst verwalten, und b) immer auch dagegen anschreibt und hofft, dass sich alles wenden wird.

 

Stolz ist er und ein wenig verbockt. Ungerecht auch und dem Klischee, dass in bildender wie schreibender Kunst nur handwerklich schlampiges und dummes Zeug durchkommt, sitzt er in seiner berechtigten Verzweiflung eben auch manchmal auf.

 

Das ist dann aber auch wieder komisch und man kann sich sehr behaglich in dieser Mecker- und Zeter-Ecke einrichten. Rühmkorf verweilt dort aber nicht, sondern reist viel herum, bosselt an Theaterstücken, jagt der RAF hinterher, zankt sich mit dem Feuilleton und Konkret herum und versucht gar nicht erst, seinen Frieden mit den Hormonen zu bekommen, sondern saubeutelt über den Hamburger Kiez und zecht zusätzlich, statt zu Kompensieren.

 

Nora Sdun

 

Peter Rühmkorf: Tabu II, Tagebücher 1971-1972, 399 Seiten, Rowohlt 2004

 

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