15. November 2004

Fußnote zum Kalten Krieg

 

Als im vergangenen Jahr John Griesemers wild wuchernder Roman "Rausch" in Deutschland erschien, wurde er uns von der Lesemutter der Nation nachdrücklich auf den Nachttisch empfohlen. Prompt wurde das Buch zu einem Bestseller, der den kleinen Hamburger Mare Verlag in ungeahnte Schwierigkeiten stürzte: Man kam kaum mit dem drucken hinterher.

 

Der Erfolg war Ermutigung genug, nun mit "Niemand denkt an Grönland" auch Griesemers Debüt auf den deutschen Markt zu bringen. Und das ist ein Erstling, der kaum gegensätzlicher als das Zweitwerk sein könnte: Ist "Rausch" uferlos, so ist diesmal der Schauplatz beengt, ist "Rausch" opulent, so ist im Debüt die Handlung schlicht – und in dieser Reduziertheit ist der Roman womöglich sogar das bessere Buch.

 

Die Leinwand, vor der "Niemand denkt an Grönland" spielt, ist der Kalte Krieg. Amerikas Krieg in Korea ist seit sechs Jahren vorüber. Doch in der Abgeschiedenheit einer grönländischen Bucht sind seine Folgen 1959 so präsent wie die vorbeischwimmenden Eisberge. In einem geheimen Lazarett der US-Armee werden die Schwerstverwundeten, die Verkrüppelten, die Entstellten des Kriegs vor den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit versteckt. Für ihre Angehörigen gelten sie als vermisst. Offiziell existiert die Station gar nicht. Hierher wird der junge Corporal Rudy Spruance aus uns unbekannten Gründen versetzt. Schrittweise nähert er sich dem Geheimnis der Station.

 

Dass Griesemer dabei den Irrsinn und die Verlogenheit eines verdrängten Kriegs zum Thema macht, hat seinem Buch den Vergleich mit Joseph Heller eingebracht. Der veröffentlichte 1961 mit "Catch 22" eine beißend schwarze Satire über den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, deren groteske Überzeichnung bereits postmoderne Züge trug. Doch anders als Heller verliert Griesemer sich bei aller Skurrilität nie im grotesk Absurden. Nicht die Unsinnigkeit des Koreakriegs ist sein Hauptthema, sondern der Mensch. "Niemand denkt an Grönland" ist weniger ein politisches Buch als vielmehr eine erwachsene Coming-of-Age-Story.

 

Als Rudy Spruance erstmals den ominösen "Flügel" betritt, den nur für wenige zugänglichen Lazarett-Teil der Station, da wäre ein politisch motivierter Autor in die Vollen gegangen. Griesemer hingegen hält sich bei der Schilderung der Invaliden, der augenlosen Schädel, der Rümpfe ohne Gliedmaßen zurück. Seine Sprache kapituliert in nüchternen, fast kargen Sätzen vor dem Horror der Entstellung. Er verzichtet auf die Ausschlachtung des Schreckens und taucht stattdessen alles in das gedämpfte Tiffany-Lampenlicht der Station.

 

Weit detaillierter dagegen konturiert Griesemer seine Hauptperson Spruance. Als hoffnungslos zerstochenes Opfer eines Schwarms Polarmücken taucht er auf, und je weiter seine Schwellungen abnehmen, desto mehr nimmt seine Stellung auf der Station zu. In der ihm zugewiesenen Rolle als "Chefredakteur" der neu geschaffenen Stützpunktzeitung scheut er auch vor investigativen Recherchen über die Ursprünge des Lazaretts nicht zurück. Dadurch und durch sein gefährliches Anbändeln mit der Geliebten des Kommandanten, wird er zu dessen Gegenpol.

 

Während Spruance Licht in die dunklen Ursprünge der Station und das frühere Leben ihres Leiters bringt, wird die "totale Umnachtung" der arktischen Nacht immer dichter. Wie ein Strudel zieht sie die Psyche der Bewohner ins Dunkel, die von schrulligen Kampftrinkern zu gefährlichen Neurotikern werden, bis schließlich der ganze Stützpunkt im Chaos zu versinken droht.

 

"Niemand denkt an Grönland" erzählt vordergründig eine Episode des Kalten Kriegs, die in den Geschichtsbüchern als Fußnote abgehandelt wird. Das ist honorig aufklärerisch und interessant zu lesen. Wie der Autor aber die Geschichte nicht selten mit karnevalesken Episoden vorantreibt, ohne ihr damit die Stringenz zu nehmen, ist seine eigentliche Leistung. Schön wäre, wenn dieser Aspekt bei der gerade laufenden Verfilmung des Romans nicht verloren ginge.

 

Gregor Kessler

 

John Griesemer: Niemand denkt an Grönland, Mare Verlag, 336 Seiten, 19,90 €

 

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