13. November 2004

Schotten auf und Schotten dicht

 

Natürlich las Niklas Luhmann Französisch immer nur im Original, aber es lag wohl doch an den verschiedenen Sprachen Deutsch und Französisch, dass Luhmann/Bourdieu nicht als Doppel in die Geschichte eingehen werden wie Deleuze/Guattari. Der Deutsche und der Franzose haben nie zusammen Bücher verfasst, sind nie zusammen aufgetreten, haben sich eher als Gegner verstanden; aber stand Gilles Deleuze 1968, ein Jahr, bevor er Felix Guattari kennen lernte, im Ruch, Kommunist zu sein wie der begeisterte Anti-Psychiater? Und sind sich Bourdieu und Luhmann nicht mindestens auf dem halben Weg entgegengekommen, sieht man sich alleine mal eine Reihe von Begriffen an, mit denen beide ihre Theoriemühlen betrieben haben? Bourdieus Feld, Luhmanns (Sub)System, Habitus und Autopoiesis, die Knappheit der Mittel und der Zwang zur Selektion.

 

Es ist also kein Zufall, dass mit dem vorliegenden Band der Versuch gemacht wird, einem Theorienvergleich nachzugehen, genauer: auf eine „Explikation der Konvergenzen und Divergenzen“ der Theorien abzuzielen. Keiner der Autoren versucht sich dementsprechend an einer unfruchtbar reduktiven Einlegearbeit sei’s in die eine, sei’s in die andere Richtung. Weder wird Luhmann in Bourdieu kopiert noch umgekehrt. Alleine der Imperativ: Vergleiche! ist schon kein frei flottierender Operator eines Metasystems, das bar jeder Voraussetzung wäre. Das ist mitzubedenken beim Freilegen (oder Konstruieren?) von Vergleichspunkten der Theorien, die ja nicht von sich aus dem anderen den Spiegel hinhalten. Vergleiche sind dann entweder langweilig (Herausgeber Nassehi: „Theorienvergleiche sind oft langweilige und oberflächliche Angelegenheiten.“) oder asymmetrisch, denn was da jeweils verglichen wird, hat in den jeweiligen Theorien unübertragbare Anschlüsse.

 

Es liegt dann nah, nicht nur von Theoriekonstruktion, sondern auch von Theorieästhetik zu sprechen, vielleicht ein bisschen so, wie man Kubismus (als tertium comparationis) zu Grunde legt und dann schaut, was Picasso und Braque jeweils daraus gemacht haben. Denn keine Frage: Supertheorien wollten beide, Luhmann und Bourdieu, vorlegen. Der eine eher distanziert, ironisch, der andere engagiert, kämpferisch, der eine deskriptiv, der andere mit dem Willen zur anderen, besseren Zukunft, der eine mit einem ganzen Set an Codes (für die entsprechenden ausdifferenzierten Systeme), der andere mit einem Supercode des Ökonomischen, der in verschiedenen Währungen in den einzelnen Feldern herrscht. Die Beobachtungen, die die Autoren in dieser ersten Abteilung vorlegen, sind meist gut nachvollziehbar, manches kann man getrost überblättern (so den Artikel „… und gemeinsam zeugen sie geistige Kinder: Erotische Phantasien um Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu“). Etwas weniger hard-core-akademisch, also insgesamt aufgelockerter kommen die drei Beiträge der zweiten, „Diagnosen“ überschriebenen Abteilung daher, die sich um die Unterscheidung Mann/Frau, um den Klassenbegriff und um Zeitdiagnostisches kümmern. Während für Bourdieu die Frau seit jeher und nach wie vor unterdrückt wird, untergräbt das Luhmann’sche Theoriedesign schon vom Ansatz her eine Asymmetrisierung nach Geschlechtern, denn nach Luhmann unterscheidet eine funktional differenzierte Gesellschaft (und in einer solchen leben wir – noch) nicht primär nach Geschlechtsmerkmalen, sondern nach unisexuellen Inklusionen.

 

Zu empfehlen sind die ausgezeichnete Einleitung der Herausgeber und der letzte Beitrag (von Markus Schroer) zum weltgesellschaftlichen Phänomen der „Exklusion“, also der Tatsache, dass immer mehr Menschen in den Funktionssystemen gar nicht mehr aufgehoben sind. Diese Leute sind noch nicht einmal unterdrückt oder ausgebeutet, weil es schlicht und einfach nichts gibt, was ein Ausbeuter dort ausbeuten könnte. Gerade für das Luhmann’sche Theoriegebäude ist dieses Phänomen relevant (und bedrohlich), denn vor die Beschreibung „Ausdifferenzierung“ scheint sich unaufhaltsam die Unterscheidung Inklusion/Exklusion zu schieben, und Luhmann (seine Nachfolger) wird mit einem Bereich konfrontiert, den er nicht beschreiben kann. Diese Lücke im System, die man auch bei Bourdieu findet, hat dieser durch Engagement wettzumachen gesucht. Was aber hierbei vielleicht mehr erstaunt als Nähen oder Distanzen der beiden Theoretiker: dass die so genannte Wirklichkeit Effekte auf Theorien hat, die durch den Einbruch des Realen die Schotten aufmachen müssen. Wie das zu geschehen hat, davon müssen andere Bücher berichten.

 

Dieter Wenk (11.04)

 

Armin Nassehi/Gerd Nollmann (Hg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, Frankfurt 2004 (Suhrkamp)

 

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