12. November 2004

Vermeintlich Liebe

 

Liebe als Vereinnahmung: Dieser Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen tritt in den drei von Doris Lessing erzählten Geschichten besonders deutlich zutage. Da sind einmal die beiden Freundinnen in „Die Großmütter“, die sich ein Leben lang treu bleiben und denen ihr Beisammensein letztendlich wichtiger ist als ihre jeweiligen Ehen – der Mann der einen stirbt, der der anderen verlässt sie, weil er sich nicht richtig wahrgenommen fühlt. Zwar fehlt jede sexuelle Komponente zwischen den beiden Frauen, jedoch wird dies einfach auf den Sohn der jeweils anderen projiziert. Die daraus resultierenden Affären, die über mehrere Jahre gehen, werden von den Frauen schließlich beendet – denn vernünftig sind sie ja, und überhaupt muss der allgemein gültige Lebensplan eingehalten werden, das heißt, ihre Söhne müssen heiraten und Nachwuchs zeugen.

 

Der Nachwuchs spielt auch in der Erzählung von „Victoria und die Staveneys“ eine tragende Rolle. Hier geht es um den alltäglichen Rassismus im liberalen Gewand und das Produkt einer Affäre zwischen einem schwarzen Mädchen und einem Jungen aus guter Familie. Victoria und Thomas waren zusammen auf derselben öffentlichen Grundschule, er allerdings nur, weil sein Vater ihn und seinen Bruder „mit dem wirklichen Leben“ konfrontieren wollte, bevor beide auf angemessenere Schulen wechselten. Jahre später treffen sich die beiden wieder, Victoria arbeitet inzwischen in einem Plattenladen, in dem Thomas zufällig vorbeikommt. Sie beginnen eine Affäre, die jedoch nur einen Sommer andauert. Victoria wird schwanger, ohne Thomas davon zu erzählen. Erst als die gemeinsame Tochter Mary sechs ist, kommt es zu einem Treffen. Zu Victorias Überraschung freuen sich sowohl Thomas als auch seine Eltern sehr über das unerwartete Kind. Doch die Begegnung entpuppt sich längerfristig als schwierig, durch den Kontakt mit der Familie wird Mary ihrer Mutter und ihrer Umgebung zu Hause langsam entfremdet. Doch die Staveneys wollen schließlich nur das Beste, wie soll Victoria sich dem also guten Gewissens entziehen?

 

Die letzte der drei Geschichten handelt von der vermeintlich großen Liebe eines englischen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Während eines Aufenthalts in Südafrika hat er eine kurze, heftige Affäre mit der verheirateten Gastgeberin. Später erfährt er, dass sie schwanger geworden ist. Zwar sieht er weder die Frau noch das Kind jemals (wieder), jedoch wird sein weiteres Leben von dieser Affäre bestimmt. In seiner Vorstellung wird die Frau zur vermeintlich einzig wahren Liebe seines Lebens, und das Kind dementsprechend „Ein Kind der Liebe“, so auch der Titel der Geschichte. Derartige Rückwärtsgewandtheit ist jedoch in der Regel nicht gerade förderlich für ein entspanntes Leben im Hier und Jetzt. So ist er auch noch 20 Jahre später überzeugt: „Es ist schrecklich, wenn man weiß, dass man das falsche Leben lebt, nicht das eigene Leben.“ Das ist richtig, allerdings ist es auch schrecklich, wenn man der Realität nicht ins Auge blicken kann.

 

Lessing erzählt in knapper Sprache wunderbare Geschichten über die Schwierigkeiten der Liebe oder das, was dafür gehalten wird. Sie zeichnet genaue Porträts ihrer Figuren und deren jeweiligen Ängste und Verletzlichkeiten. Die Autorin, die einmal gesagt hat, sie wolle so schreiben, dass die Leute es auch verstehen könnten, hält nichts von kunstvoll verschachtelten Sätzen. Für Liebhaber sprachlicher Finessen mögen diese Geschichten daher möglicherweise nichts sein, für alle anderen aber durchaus empfehlenswert.

 

Katrin Zabel

 

Doris Lessing: Ein Kind der Liebe, Drei Erzählungen, Hoffman und Campe 2004, 289 Seiten

 

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