3. November 2004

Niedrige Mathematik

 

Die Wahrheit ist, dass Theodor Storm eine Geschichte wie die andere erzählt, ich meine im selben Ton, unabhängig davon, was erzählt wird. Viele Novellen sind tatsächlich Erzählungen, eine ganz knappe Rahmenhandlung (oder: nur Rahmen, ohne Ornament), ein Erzähler positioniert sich, und los geht’s. In „Der Herr Etatsrat“ benötigt Storm knapp zehn Zeilen, um den Erzähler zum Sprechen zu bringen, wie Storm schreibt. Und der heutige Leser stolpert, denn er stößt in diesen Anfangszeilen auf das Wort „Bestie“, von dem er glaubt annehmen zu dürfen, dass es nicht zum Grundvokabular des Mannes aus Husum gehört. „Sie müssen die Bestie ja noch in Person gekannt haben“, fragt ein „etwas derber junger Freund“ den Erzähler.

 

Eine ziemlich typische Intervention Storms: etwas setzen, und es gleich darauf zurücknehmen, jedenfalls relativieren. Vielleicht hat die Bestie ja Grund, Bestie zu sein, man hat es nur nie erfahren. Wie altmodisch auch immer Storm sein mag (noch altmodischer jedenfalls als Thomas Mann, sein Ziehsohn, den er persönlich nie kennen lernte), man muss ihm hoch anrechnen, dass er an keiner Stelle offen moralisiert. Er erzählt das, oder lässt erzählen, was er zu hören bekam, und damit basta. Keine Tendenz, abgesehen von der Fundamentaltendenz des Nicht-Richter-sein-wollens. Sehr sympathisch auch, dass Storm nicht psychologisiert, das lässt ihn wiederum moderner erscheinen als seinen literarischen Stiefsohn. Das Wichtigste, ohne dass Storm daraus ein Geheimnis machte, muss sich der Leser dazu denken. So auch in dieser Novelle. Man weiß nicht, was den Herrn Etatsrat dazu bringt, seine beiden Kinder, Junge und Mädchen, sträflich zu vernachlässigen. Man erfährt nicht, was der eben gar nicht gute Mann den ganzen Tag macht (Beruf: Statiker). Um seine verstorbene Frau trauern? Der Leser hat es jedenfalls mit einer Verwandlung ins Gemeine, wortwörtlich ins Bestialische zu tun. Der Herr trinkt nämlich auch ganz gerne, und was dann passiert, liest sich so: „… auf dem Fußboden neben seinem Altar lag der Herr Etatsrat gleich einem ungeheuren Rosskäfer auf dem Rücken und arbeitete mit seinen kurzen Beinen ganz vergebens in der Luft umher, bis Herr Käfer [sic!], das allmählich immer unentbehrlicher gewordene Faktotum, und der einzige Sohn des Hauses den Verunglückten mit geübter Kunst wieder aufgerichtet hatten und in seinem Kabinett zur Ruhe brachten.“

 

Das klingt wie eine Steilvorlage für unseren Allegoriker aus Prag. Krude geht es weiter. Der Junge darf nicht studieren, das Mädchen nicht mit Gespielinnen spielen. Als der Sohn dann doch los darf, erkrankt er und stirbt, was den Vater nicht sonderlich kratzt. Der andere Käfer („ein Insekt der siebenten Ordnung“, so der Sohn zu Lebzeiten) schwängert sein Töchterlein, das einen faustischen Abgang hinlegt. Keine Frage, dass der Herr Etatsrat den Leichengang der Tochter nur als Beobachter, am Altan stehend, begleitet, dann aber doch die christlich kräftigenden Worte spricht: „Contra vim mortis, meine Freunde! Contra vim mortis!“, und weiter, nachdem er „mit kondolierender Gebärde seine runde Hand“ geschüttelt hat: „aber recht schönes Wetter hat sie sich noch zu ihrem letzten Gang ausgesucht!“ Es gibt nun keinen Aufstand bei der Gemeinde ob dieser höhnischen Bemerkungen, Storm biegt es so hin, dass der Leser der einzige ist, der sie vernimmt, denn der „Zug hatte bei diesen Worten bereits die Kirchhofschwelle überschritten…“ So lapidar geht es hier zu.

 

Das Unbewusste kennt Storm natürlich auch, aber er deckt es zu, poetisiert ganz offen: In einer anderen Novelle heißt es: „Nur so viel ist gewiss: auch wir Gesunden sehen die Dinge nicht, wie sie sind; uns selber unbewusst webt unser Inneres eine Hülle um sie her, und erst in dieser Scheingestalt erträgt es unser Auge, sie zu sehen, unsere Hand, sie zu berühren.“ Cum grano salis gilt das auch heute noch, nur eben schon auf der Ebene des Käfers.

 

Dieter Wenk (11.04)

 

Theodor Storm, Der Herr Etatsrat, in: T.S., Meistererzählungen, hg. von Wilhelm Lehmann, Zürich 1995 (Manesse)