1. November 2004

5, 7, 5 ist nicht „17 und vier“

 

17 Silben insgesamt auf drei Zeilen, nicht viel Raum für die sinnfällige Wirklichkeit des alles durchwaltenden Gesetzes Buddhas, meint man.

 

Primzahlen sind das (5, 7, 17) nur durch eins und sich selbst teilbar, und so ist jede Zeile und das ganze Haiku isoliert, durch nichts teilbar außer durch sich selbst und diesem einen Augenblick seines Entstehens. Der Augenblick als Repräsentant der Ewigkeit, ungesucht aber eine Offenbarung. Eine Unio Mystika ohne europäisch zementierte Tiefsinnigkeit, sondern Zen.

 

Haiku ist Volkssport. In Japan. 50 Monatszeitschriften veröffentlichen im Jahr eine Million neuer Dreizeiler und diese Ultrakurzform gibt es schon sehr lange. 1679 dichtete Basho einen Dreizeiler, der dieser neuen Auffassung von Lyrik genügte: Der Dichter mischt sich nicht ein. Keine Sprachkapriolen, keine Wortspiele. Klar, schlicht, harmonisch. Kein knobeln. Keine Besserwisserei.

 

Dass sich diese Konzentration auf das Wesentliche seit 500 Jahren so überflutender Beliebtheit erfreut, liegt zum einen an den für alle einleuchtenden Formkriterien, zum anderen, und das ist viel entscheidender, an der gemeinsamen Einsicht: „Sucht nicht nach den Spuren der Alten, sondern nach dem, was die Alten suchten.“ Und wonach suchten die? Immer nach dem verborgenen Sinn des Ereignisses. Dafür muss man die Blöße haben, einem Impuls nachzugeben, ohne expressionistisch auszurasten, denn es geht nicht um Körperfunktionen. Das, was man im Moment im Kopf hat, ist entscheidend, nicht was man mühsam und nachträglich reflektierend aus dem Hirn kratzt oder umnächtigt hinausschreit.

 

Als Europäer muss man sich wohl über lauter Ausschlussverfahren dieser Lyrik nähern. Denn süße Ländlichkeit war für die Romantiker vielleicht eine stehende Größe, aber mit Brillanz hatte das noch nie etwas zu tun. Genauso wie „fade“ oder „öde“ zwar geläufige Vokabeln sind, aber ihre positive Ausdeutung doch immer noch mit Schwierigkeiten verbunden ist und bleibt. Und wirklich, man kann Haikus vor allem ihre Schnarchigkeit abgewinnen. Frösche springen in Weiher, Astern blühen, Wind weht. Tja. Wenn man sich nun einer Naturliebhaberei hingibt, kommt man aller Wahrscheinlichkeit bei der Monatszeitschrift „Kraut und Rüben“ oder „Ökotest“ heraus, also falsch. Man muss die allegorisierende Sinnproduktion abweisen und vor allem die gute Tat. Man muss das Haiku als Phänomen stehen lassen, denn es ist ohne Hintersinn. Schwer zu fassen in einer Erdregion, die sich vor allem über exegetische Techniken profiliert.

 

Bleibt man bei der fantastisch einfachen Tatsache der Primzahlen, so wird einem der fantastisch einfache Augenblick der Haikus am klarsten. Also verstanden hat man Primzahlen ja noch nie, es ist wie verhext, sie sind unteilbar. Der schiere Tatbestand lässt einen bei merkwürdigen, sonst aber unauffälligen Zahlen, genau wie beim unteilbaren, sonst aber anspruchslosen Augenblick stutzen.

 

Die Haiku-Dichter sind scharfsinnig im Wortsinn, spitzen und schärfen also die Ohren und übrige Sinne, wetzen aber nicht didaktische Messer, um damit hochkultürliche Drohgebärden und referenzspektakelnde Textaufmotzung ins Papier zu reißen. Haiku ist nichts für Prahlhälse.

 

Nora Sdun

 

Haiku, Japanische Dreizeiler, aus dem Japanischen von Jan Uhlenbrook, Reclam 2004

 

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