31. Oktober 2004

Love Affairs der Datanisten

 

Peter Glaser hat die Wechselwirkungen zwischen Technik und Kultur der letzten 20 Jahre zum Gegenstand seiner Betrachtungen gemacht, wie kein anderer deutschsprachiger Schriftsteller. Sein Debütroman „Der große Hirnriss“ (mit Niklas Stiller), die Anthologie „Rawums“, seine Bücher „Schönheit in Waffen“, „Vorlieben“ sowie die Kolumnensammlung „Glasers heile Welt“ waren nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern auch auf undogmatische Art analytisch und sprachlich eindrucksvoll. Nun legt der 1957 in Graz geborene und in Hamburg lebende Autor einen Band mit fünf Erzählungen vor. Mit der darin enthaltenen „Geschichte von Nichts“ gewann er im letzten Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis. Diese wurde vor allem wegen ihrer „gelungenen Darstellung unserer Lebensweise im globalisierten Medienalltag“ (Telepolis) ausgezeichnet.

 

In den fünf Erzählungen geht es unter anderem um das, was zwischen den Fingern zerrinnt: Absichten, Ideologien, Lebensentwürfe, -standards, hauchdünne Anflüge von Liebesbeziehungen, Geld, Werte, Identitäten und Zeit. Es geht um das, was bleiben soll und sich verweigert.

 

Es ist die Ära des wirtschaftlichen Abschwungs. Eine Gegenwart in nicht allzu großer Ferne, die doch anmutet, als sei sie 100 Jahre alt und ebenso futuristisch. Es riecht nach David Lynchs „Eraserhead“, Orwells „Down and out in London“ und nach Megapolis. Manche Geschichten spielen kurz vor dem Jahr 2000, manche kurz danach. Zwischen den Geschichten gehen die Geschichten weiter und pflegen eine geheimnisvolle Korrespondenz. „Keiner“ handelt von einem Paar, dessen Berührungspunkte – die gemeinsame Bibliothek – zur Hälfte in Umzugskartons verfrachtet wird. Damit ist der Zustand der Beziehung bereits geklärt. „Zum ersten Mal las ich eines der Bücher meiner Frau. Ich hatte das Gefühl, etwas sehr Intimes einzusehen, und mir war, als ob das Erstaunen ein winziges Leck in mir schlage, durch das ich nun auszulaufen begann.“ Und was das Leck im Ich-Erzähler anrichtet, wirkt hypnotisch und ist das eigentliche Thema: die leise Unruhe der Single-Mentalität. Wie lebt man mit ihr neben anderen Egos?

 

Es sind skurille Ideen, an denen nicht nur die Nebenfigur Lehneisen laboriert (dieser arbeitet unter anderem an einem Werkzeugkoffertheater und gibt vor, eines der Kinder zu sein, die auf den Brandt-Zwiebacktüten abgebildet waren), die manchmal etwas zu gewollt daherkommen. Eine Jacke wird nur gekauft, um die Diebstahlsicherung zu stehlen. Beim Fernsehgucken wird eine Zugehörigkeit gesucht. Nachbarn unterhalten sich über die Gegensprechanlage. Es sind die Entfremdungsmechanismen, die es Glaser angetan haben und die unter seinem Brennglas als Brandlöcher im Gewebe des Miteinanders noch vergrößert werden. Dabei wird der Erzähler präsenter als seine Figuren.

 

„Das Dreikörperproblem“ erzählt etwas, das eine Liebesgeschichte sein könnte. „Es war das Jahr, in dem die nackten Telefonpfosten auf den Straßen wieder gläserne Seitenwände und Vordächer bekamen.“ Toni Fischkorn und der Kalifornier Nelson Broderick leben unterhalb des Existenzminimums fast wie Penner und geraten in ebenso beiläufiger wie zärtlicher Weise an eine Frau. Fischkorn betreibt, seelisch erstaunlich ausgeglichen, in solipsistischer Manier Klangforschung und setzt die Musik-Geräusche hinter den Wänden zu Spekulationen über seine Mitmenschen zusammen. Obwohl er am Ende allein ist, schwärmt er: „Da war es wieder, das groß wie eine nächtliche Stadt leuchtende Gefühl, in einer Armee der Gerechten im Stillen für eine gute Sache zu kämpfen: für das Ende des Kampfs, und sei es vergebens.“

 

Das Drama kommt so zärtlich, wie es wieder geht. Auch „Raumpflege“ erzählt die Geschichte eines Trios. „Einige Menschen aber versuchen, ihrem Zeitalter in seiner ganzen Größe entgegenzutreten. Einer von ihnen war Nelson Silberman Broderick.“ Der Steuerberater Carl, die Physikerin und Putzfrau Ewa sowie der Analphabet und Schrottplatzbesitzer Nelson Broderick landen diverse Coups: Mit einem Tesla-Trafo, samt Autobatterien unter einen Rollstuhl montiert, legt das Trio auf Computermessen alle Geräte per annihilierender Abstrahlung lahm. 1998 lassen sie in Chicago bei der Präsentation des Windows 98 das komplette System abstürzen. Als Broderick dann bei einer weiteren Aktion die Zahl Pi an einer Stelle weit hinter dem Komma verändert und in die Rechner der Kosmologen einschleust, stößt die physikalische Großforschung auf Teilchensplitter und stellt falsche Hypothesen auf. Das Trio erpresst einen Direktor. Nelson landet nach dem nächsten Coup im Knast. „Erfolg ist beherrschtes Schicksal“, weiß Glaser. Was bleibt, ist ein schönes Gefühl und das Umblättern in die Gegenwart.

 

Carsten Klook

 

Peter Glaser: Geschichte von Nichts (Kiepenheuer & Witsch)

 

amazon