31. Oktober 2004

Unterirdischer Seitenwechsel

 

In „Oldboy“ des Südkoreaners Chan-wook Park enthüllt sich im Laufe des Films die Geschichte zweier Schulkameraden, die aufgrund zweier sozialer Übertretungen zu Todfeinden werden und schließlich doch versöhnt abtreten. In Carol Reeds „Der dritte Mann“ ist es umgekehrt: zwei ehemalige best friends, die sich durch die Kriegswirren des Zweiten Weltkriegs aus den Augen verloren haben, treffen sich wieder und werden zu Todfeinden, Versöhnung gibt es nicht. Gemeinsam ist beiden Filmen, dass sie sich wie von selbst erzählen. Die alte Geschichte mit dem Stachel. Ruhe gibt es erst (wieder), wenn er gezogen ist. Und genau dort liegt der Punkt, an dem die Parallelgeschichten zusammentreffen. Das Opfer lernt sich selbst als Täter kennen.

 

Natürlich ist „Oldboy“ die besser konstruierte Geschichte und vermutlich auch der bessere Film. Einer, der völlig ohne MacGuffin auskommt. Bei Reed darf man nicht zu lange darüber nachdenken, warum der Schriftsteller Holly Martins (Joseph Cotten) plötzlich in Wien auftaucht. Es reicht, dass er als Autor von Detektivgeschichten Recherchelust mitbringt und im Leben selbst so handelt, wie sonst seine Figuren im Krimi. Martins will nicht glauben, dass sein Freund Harry Limes (Orson Welles) als moralisch Letztgereihter im Schwarzmarkthandel der Wiener Nachkriegszeit firmierte, denn just in dem Moment, als Martins ankommt, erfährt er auch schon, dass Limes nicht mehr unter den Lebenden weilt. Autounfall. Vom eigenen Chauffeur umgenietet. Limes’ engste Wiener G’spusis durften die Abschiedsworte vernehmen, die er vielleicht gar nicht sprach, und der Leibarzt des Toten drückte diesem eigenhändig am Unfallort die Augen zum wohl doch nicht letzten Schlaf zu.

 

Eine Komödie? Schwarz, aber doch Komödie? Alles deutet darauf hin: die Stadt selbst, die sich noch nie ernst genommen hat, die Vierviertelherrschaft der Besatzer, unter deren schmaler Decke der Wiener Schmäh haust, das Beschäftigungsverhältnis von Limes’ Freundin Anna, die zu viel lacht, weil sie in der „Josephstadt“ arbeitet, die fiesen kleinen Jungs, die unschuldige Menschen in zwielichtigen Situationen als Mörder bezeichnen, der Prater samt Riesenrad, während dessen Reise um die eigene Achse eine absurde Männerbegegnung Höhen und Tiefen auslotet und dem Zuschauer klar wird, dass der MacGuffin nicht rausgeschmissen werden kann, auf dass er in einer Wurstelbude verschmore, und komisch natürlich vor allem Hollys Frage in der Kanalisation, wo man denn gerade sei. Und das Penicillin macht das Ganze eben schwarz. Aber so ist dieser Markt eben. Andere Märkte, andere Sitten? Vielleicht ist das die frohe Botschaft des Films. Denn was das Terrain anlangt, das Filme sonst zusammenhält, Männer, Frauen und die Liebe, so sieht es hier ganz bitter aus. Der falschen Anna (Alida Valli) ist es egal, ob sie einen Verbrecher liebt, wenn er nur da wäre, und für die Zeit der eben nur peripheren Abwesenheit ist es ein Leichtes, aus Holly Harry zu stricken, solange Holly eben noch unschuldig ist und copierfähig, was dann naturgemäß aufhört, als er seinen Freundfeind umbringt.

 

Ein gewissermaßen perverser Anschluss an das „Oldboy“-Finale ist aber immerhin denkbar. Der mittellose Holly Martins tritt in die Stiefel von Limes, der es ja auch irgendwie hingekriegt hat, ein böser Mensch zu werden, und verdient sich dadurch Geld und die Liebe Annas, die die „Copy and Paste“-Taste wieder drücken und nicht so einfach an Holly vorbeispazieren kann. In der sozialen Marktwirtschaft hört diese Liebe dann natürlich auf.

 

Dieter Wenk (10.04)

 

Carol Reed, Der dritte Mann (The third man), GB 1949, Drehbuch: Graham Greene