22. Oktober 2004

Die Freigabe der Liebe

 

Unterbrechungen tun im Gespräch meist nicht weh, wohl aber in der Liebe. Vor allem, wenn das Programm Liebe schließlich ganz heruntergefahren wird. Die Irritation – wie in „Oldboy“ – kommt von außen, die Konsequenzen werden innen vollzogen, und der Schmerz ist da bei dem, der dann noch übrig bleibt. Man sagt ganz richtig, dass Schmerz überwältigt, und das ist auch in diesem Film der Fall. Es war ein Junge, der liebte ein Mädchen, das seine Schwester war, und die liebte ihn auch, und ein Dritter plaudert alles aus und schon ist der berühmte fernöstliche Selbstmord da: die Schwester „fällt“ noch mal, ihr Bruder kann sie nicht „halten“. Diese nicht selbst verschuldete Unfähigkeit führt zu einem anderen Programm, das vermutlich als Antidepressivum wirkt und den Vorteil hat, sehr viel Zeit zu benötigen. Auch in diesem neuen Programm geht es um Liebe, genauer gesagt um verbotene Liebe, nur dass sie diesmal erst entworfen werden soll. Alles scheint hier programmierbar – bis auf das Ende, also die Reaktion auf das sich erst allmählich enthüllende übertretene Verbot des zweiten Paars.

 

Bei aller Bestialität des Geschehens, die sich in der Folge des Programms zeigt, steckt hier, in diesem Offenhalten, eine eigenartige Humanität, vorausgesetzt, man begibt sich einmal auf das Terrain der extrasozialen Begleichung von Rechnungen. Kurz gesagt geht es um den Versuch, einen Verräter, Oh Dae-su, an den Punkt zu führen, an dem er selbst die Position des Opfers (des späteren Programmierers) einnimmt und durch sein Verhalten bestimmen kann, ob die Liebe weitergeht oder nicht. Genau in diesem surplus gegenüber der ersten, gescheiterten verbotenen Liaison liegt die Pointe des Films, es geht nicht um den Vernichtungsfeldzug eines Rächers, sondern um die Reinstallation einer vertanen Chance auf anderem Terrain.

 

Hat man jemals schon eine so schöne Designerlampe in einer Gefängniszelle gesehen? Das Bett wird jede Nacht neu gemacht. Der Häftling darf fernsehen so viel er will. Tusche, Heft und Stift nach Wunsch. Was schreibt man da auf, wenn man schon elf Jahre sitzt und nicht weiß wie lange noch? Die Bilanz nach fünfzehn Jahren, als Oh Dae-su scheinbar willkürlich entlassen wird: durchtrainierter Körper, nicht ganz wahnsinnig gewordener Geist, die Ehefrau mittlerweile ermordet, er selbst Hauptverdächtiger, und irgendwo eine Tochter; vor allem: ein fürchterlicher Wille, herauszubekommen, was das „jetzt“ war.

 

Der Gegenlauf der Rächer kann beginnen, die nötigen Mitspieler mittlerweile hinreichend sexualisiert. Es läuft auch alles am Schnürchen, die Tasten folgen dem präparierten Klavier, nur dass der Zufall ausgeschlossen ist. Schrill ist der Ton trotzdem. Speisung Lebendiger durch Lebendiges, manipulierte Liebe auf den ersten Blick, die Einrichtung der Autostop-Taste, die fürchterlichen Weisen des Im-Bild-Bleibens und der grausame Zwang, nicht mehr aussteigen zu können, Quereinstieg der Feinde von Feinden, die unter der Hand das Schema von Gut und Böse verwischen. Eigentlich kann also gar nichts schief gehen bis zu dem Punkt, als Oh Dae-su das Familienalbum in der Hand hält und durch den kurzen, aber sehr intensiven chronologischen Check-up auf den erforderlichen Programmstand gebracht wird. Ödipus, bevor er von Freud beschlagnahmt wurde. Ich sehe klar. Und weil ich das jetzt so gut sehe, reiß ich mir die Augen aus. Danach kann er noch viel besser „sehen“. Entsprechend beißt sich Oh Dae-su die Zunge ab, ohne doch, ebenso wenig wie Ödipus, wissen zu können, was danach geschieht , ob er also dafür belohnt wird. Er wird. Die Kiste, die alles ausplaudern könnte, bleibt geschlossen, Mido bleibt das Jokaste-Schicksal erspart. Sie fällt gewissermaßen frei.

 

An dieser Stelle kann der Programmierer getrost abtreten, nach der Rache kommt tatsächlich und definitiv nichts mehr. Sein Stellvertreter kann weitermachen. Ein letztes Mal kommen Zaubermächte ins Spiel, durch Hypnose – wie  Themistokles sich eine Vergessenheitskunst gegen Beleidigungen wünschte – soll der verrufene Teil Oh Dae-sus zum Verschwinden gebracht werden. Dieses Programm, so die letzte Einstellung, steht auf der Kippe. Außerdem ist da noch dieser blöde Haftbefehl. Aber im Märchen gibt es keinen Haftbefehl.

 

Dieter Wenk (10.04)

 

Chan-wook Park, Oldboy (Oldeu boee), ROK 2003