16. Oktober 2004

Wenn auch Alkohol nicht mehr hilft

 

Manche Menschen sollte man vielleicht besser nicht heilen. Geheilt, würde ihnen nämlich möglicherweise etwas fehlen. Und sei es nur der Strohhalm, mit dem sie bisher ihre Cocktails tranken – mit welch katastrophalen Folgen auch immer – und der eine Art Teufelsbrücke zum Leben abgab. Mit dem Strohhalm geht dann auch die letzte Illusion den Bach runter. Auf die Bemerkung, dass das Leben lebenswert sei, reagiert der Betroffene dann mit dem Griff zum Revolver, wenn er denn einen hat, und begeht darauf vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben einen auktorialen Akt, der aber zugleich sein letzter gewesen sein wird. Selbstmörder sind irgendwie Verfolger ihrer selbst. Sie ringen mit einem übermächtigen Gegner in ihnen selbst, der von ihnen nicht ablässt und der sie zu einer fundamentalen Kompensation treibt, die sich synkopisch, wie ein Schluckauf, zum Einfall des Gegners verhält. Gesetz der endlosen Doppelserie. Nimmt man die Kompensation weg und vergisst, etwas an ihre Stelle zu setzen, bricht alles zusammen. Etwas hat dann aufgehört, das entscheidende Bisschen mehr zu sein als es selbst. Ein Foto der Geliebten oder der Frau ist dann nur noch ein Stück Papier mit etwas Farbe und Gestalt drauf, aber nicht mehr ein Zeichen der Liebe, das auch weiterhin dabei hilft, sie aufrecht zu erhalten.

 

Alain, der müde Held, richtet sich auf seinen Abgang ein. Die Fotos, zwischen denen er im geschmackvoll eingerichteten Zimmer des Hospitals für Alkoholiker in der Nähe von Versailles hin und her geht, sagen ihm nichts mehr. Er tauscht sie aus gegen Katastrophenmeldungen aus der Zeitung, die auch bald seinen Tod melden wird. Das Leben ist die Katastrophe, und vielleicht ist sie das Einzige, was ihm durch seinen Akt noch zu sagen bleibt. Obwohl oder eben gerade weil ihn der Arzt für geheilt hält, hat Alain keine Lust mehr, ins Leben zurückzukehren. Eine gemeinsam mit einer Freundin in Paris verbrachte Nacht hat ihm nicht mehr die Augen öffnen können. Seine Ehe mit einer reichen Amerikanerin betrachtet er als gescheitert. Und ein Tagesparcours durch sein früheres Leben in Gestalt eines abklappernden Besuchs einer Reihe von Freunden und Bekannten aus arrivierten, Boheme- und Künstlerkreisen lässt keinen Zweifel daran, dass da nichts mehr ist, was auf Lebensverlängerung plädiert. Sein Dasein als interesseloses Nichtwohlgefallen ekelt ihn an. Er konnte und kann nichts festhalten. Ewiger Passant, der es sich aber leisten kann. Zu Melancholie, Schwermut und Selbstmitleid gehört immer ein wenig Geld, das den unmittelbaren Existenzdruck auf Distanz hält. Und wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, kann es leicht sein, dass man den Passionen des normalen Lebens ihre Dringlichkeit nicht mehr so recht abnimmt. Die daran anschließende Schwierigkeit, nicht nichts machen zu können, ist offensichtlich. Die radikale Form des far niente bietet bekanntlich nur der Tod. Und auf Süßigkeiten hat Alain keine Lust mehr. Und so bringt er sich um.

 

Anders aber als seinem literarischen Schöpfer, Pierre Drieu La Rochelle, ist ihm ein Blick auf ein größeres gesellschaftliches Spektakel, das die Velleitäten des dekadenten Lebens abzuschaffen verspricht, verwehrt. Aber auch ein falsches Engagement schützt vor Selbstmord nicht. Gibt es ein moralisch inakzeptables Leiden, also eines, das irgendwie falsch ist? Um solchen Fragen aus dem Weg zu gehen, gibt es bei Louis Malle Musik von Erik Satie zu hören. Schicksalsmelodien des Postexistenzialismus. Und das schöne Gesicht von Maurice Ronet. Ästhetisierung des Ästhetizisten als Kollaborateur. Mon Drieu.

 

Dieter Wenk (11.01)

 

 

Louis Malle, Das Irrlicht (Le feu follet), F/I 1963

Die Anfangseinstellung ist grotesk: Das Gesicht eines Mannes, der im Bett liegt, er ist nicht allein, und der Mann schaut etwas an, vermutlich ist es die Frau, mit der er gerade geschlafen oder es zumindest versucht hat, man weiß nicht, ob sein Blick erwidert wird, vermutlich eher nicht, denn der Mann wirkt hilflos, ratlos, gleichzeitig versucht er zu verstehen, was passiert ist, jedenfalls hat man es nicht mit einem romantischen Liebespaar zu tun, das sich gerade die Welt versprach. Dann sieht man die Frau, sie wirkt, als habe sie das, was sie gerade erlebt hat, nicht zum ersten Mal erfahren. Sie ist routiniert in der Beschwichtigung. Es sind die Männer, die beim Sex getröstet werden müssen. Etwas später ist der Mann, Alain (Maurice Ronet), wieder zu Hause. Sein Heim ist gerade ein Hospital für Alkoholkranke. Der Arzt meint zwar, Alain sei geheilt, aber Alain will gar nicht wieder zurück, hinaus in die Wirklichkeit. Seine amerikanische Frau Dorothy hat ihn vor Jahren verlassen, wegen seines Trinkens, und ist längst wieder in ihrer Heimat. Aber der Film legt sich nicht fest bei der Ursachenforschung nach der Alkoholsucht. Auch Dorothy ist nur ein Symptom. Alain gehört zu den metaphysisch grundsätzlich unzufriedenen Menschen. Nichts kann ihn bei der Stange halten. Die Unruhe der frühen erfolgreichen Jahre, die diese Einstellung gut kaschieren konnte, ist einer lähmenden Lethargie und Apathie gewichen. Sein Begehren funktioniert nicht mehr. Jedenfalls weiß er nicht mehr, wozu es gut sein soll. Eigentlich sieht er noch ganz gut aus, hinreichend viele Blicke von Frauen erreichen ihn, doch er sieht das nicht mehr, wie zum Beispiel in einer Schlüsselszene in einem Café, wo es zum definitiven Umschlag kommt, Alain wieder anfängt zu trinken und ihn genau während dieser selbst initiierten Verurteilung zum Tod diese junge Frau sehr auffordernd anblickt und man eigentlich gar nichts mehr machen müsste als diese Frau irgendwohin mitzunehmen für was auch immer. Dieses Schaukeln der Frau auf ihrem Stuhl, eine wundervoll einnehmende Aggressivität, die man so selten gesehen hat und die ihre Unverborgenheit vielleicht gerade aus der schon gespürten Unzugänglichkeit des Mannes genommen hat. Es wird dann ein frivoles Spiel gewesen sein, bei dem man sich nichts zu vergeben gehabt hätte. In diesem eben nicht bezirzten Moment trinkt Alain also das Glas Schnaps – mit den vorhersehbaren Folgen, der metaphysische Ekel bekommt einen Gefährten auf körperlichem Terrain. In so einer Verfassung verliebt es sich schlecht. Aber dazu war Alain am Morgen ja auch nicht aufgebrochen. Sein lapidarer Satz, bevor er in der Nacht davor das Licht zum Schlafen ausmachte: Morgen bring ich mich um, wird nicht eingeklammert oder ausgehebelt. Alain begibt sich auf seinen Kursus des Abschieds, alle machen es ihm leicht, niemand vermag ihn zu überzeugen, noch länger zu bleiben, an welcher Stelle auch immer, und so kann der selbst gestellte Auftrag bequem im eigenen Bett ausgeführt werden. Ein Schuss. Ende. Das immer noch ein wenig Skandalöse an diesem Film: dass man diesen Luxus, diese Nonchalance von Alain bewundernswert findet und zugleich zu respektieren hat, dass eine Haltung, zu der jemand kommt, unübertragbar ist und sich nicht physiognomisch ablesen lässt.

 

Dieter Wenk (10.04)

 

Louis Malle, Das Irrlicht (Le feu follet), F/I 1963, Drehbuch: Louis Malle, nach dem gleichnamigen Roman von Pierre Drieu la Rochelle